Was für ein aufgeblasener Typ, dachte Daniel. Aber wenn er jetzt mit leeren Händen zurückkam, konnte er seinen Artikel glatt vergessen. In der Redaktion begannen sie nämlich schon langsam zu trampeln. Es wäre absurd, jetzt zu scheitern, wegen lächerlicher zehn Minuten.
„Herr Graf, es tut mir leid.“ Winterstein gab sich möglichst jovial und schaute schuldbewusst in Richtung der Halbkugel über dem Klingelknopf. „… wären Sie trotzdem bereit für dieses Interview?“
„Nun gut“, sagte die Stimme, offenbar besänftigt und zufrieden. „Sie haben eine halbe Stunde und keine Minute länger.“
Das Tor schwenkte wie von Geisterhand auf. Winterstein eilte zurück zum Wagen und gab Gas.
„Blödmann!“, fluchte er laut vor sich hin. Der Kies unter den Reifen kam in Bewegung und kleine Steine wurden von den durchdrehenden Rädern gegen den Unterboden der Karosserie geschleudert.
Nach ungefähr zweihundert Metern, am Ende des Kiesweges, tauchte ein Gebäude auf.
Das Landhaus von Freiherr Graf Götz von Wiltberg war detailverliebt komplett saniert worden. Bevor von Wiltberg das Anwesen erworben hatte, war das Haus nicht viel mehr als eine Ruine gewesen. Jetzt erstrahlte es in unaufdringlichem Glanz, die Wege waren akkurat und der kleine Park gepflegt. Daniel Winterstein musste sich eingestehen, dass er beeindruckt war. Er stellte seinen roten Fiat Bravo auf dem Parkplatz ab – auf dem gut und gerne 20 Autos bequem nebeneinander hätten stehen können – und kramte schnell sein Equipment zusammen, das wild durcheinander mit anderen Dingen auf der Rückbank verteilt lag: Laptop, Diktiergerät und einen großen Block Papier. Alles verschwand in seiner Neuerwerbung, einer alten Hebammentasche, die Winterstein vor ein paar Wochen im Ramsch & Plunder in der Schönhauser Allee für 25 Euro erworben hatte. Von der ersten Sekunde an hatte er sich in diese Tasche verliebt. Nun, voll konzentriert und fast ein bisschen fröhlich, ließ er die Schlösser zuschnappen und runzelte mit zusammengekniffenen Augen die Stirn.
Okay, dachte er beim Aussteigen, dann wollen wir mal. Die Villa lag im gleißenden Sonnenlicht. Winterstein musste blinzeln. Er schloss den Wagen und ging rasch zur Eingangstür.
Eine halbe Stunde. Nun gut, dachte er, mal sehen, wie sich diese dreißig Minuten mit diesem eitlen Gecken entwickelten. Dann zog er an der altertümlich anmutenden, eisernen Strippe und wartete. Die Tür schwang so automatisch auf wie die Toreinfahrt. Hightech und Nostalgie. Einfallsreich war er jedenfalls, der Herr Graf.
Eigentlich hatte er einen Butler oder zumindest einen persönlichen Sekretär oder eine Haushälterin erwartet. Aber da sich ihm niemand in den Weg stellte, trat er ein.
Vor ihm erstreckte sich eine lichtdurchflutete Halle mit weinrotem Marmorfußboden. Kleine, antik anmutende Statuen standen auf weißen Sockeln, Ledersessel waren zu Sitzgruppen zusammengestellt und das Ganze erinnerte ein bisschen an das Foyer eines Hotels der gehobenen Klasse. Eine breite Holztreppe führte zum oberen Stockwerk. Am Fuße der Treppe stand in hellgrüner Trachtenjacke und weißer Hose der Hausherr. Freiherr Graf Götz von Wiltberg.
Sein Haar war schlohweiß und streng nach hinten gekämmt. Seine Miene steinern. Er trug keine Krawatte, sondern ein dunkles seidenes Tuch in einer ähnlichen Farbe wie der des Marmorfußbodens. Ein großer Siegelring beschwerte seine rechte Hand, die auf dem Geländer ruhte. Nach einem kurzen, intensiven Mustern seines Gastes hob der Graf die Hand und signalisierte Winterstein, ihm zu folgen. Ohne ein Wort der Begrüßung drehte er sich um und stieg die Stufen nach oben. Winterstein ging hinterher. Die Treppe mündete in einem Flur, der links und rechts von mehreren Zimmern flankiert war. Ein dicker Läufer dämpfte die Schritte. An den Wänden hingen Ölgemälde von Landschaften. Auf einem der Bilder erkannte Winterstein das Matterhorn in den Alpen, auf einem anderen die Externsteine bei Detmold und auf einem Dritten die Bastei in der Sächsischen Schweiz. Zwischen den Bildern hingen kandelaberartige Leuchter aus hoch poliertem Messing.
Freiherr von Wiltberg öffnete eine Tür.
„Kommen Sie herein, mein Arbeitszimmer sollte Ihren Zwecken genügen.“
Das Arbeitszimmer war, im Gegensatz zur Halle, ein eher nüchterner Raum, wenngleich sehr geräumig. Ein lederner, bequemer Schreibtischstuhl war unter eine große, schwere Glasplatte geschoben, die Teil des Schreibtisches war. Auf der Glasplatte türmten sich neben dem 21 Zoll Flachbildmonitor mehrere Stapel Papiere.
Im Raum gab es verschieden große Regale gefüllt mit Aktenordnern, und vor dem breiten Fenster befand sich ein Tisch mit einer Couch und mehreren Sesseln, flankiert von riesigen Grünpflanzen. An den Wänden hing nur ein einziges Bild: eine große Karte von der Antarktis.
Freiherr Graf von Wiltberg wies Winterstein an in einem Sessel Platz zu nehmen und setzte sich ihm gegenüber.
„Nun, Sie wünschen ein Interview über mein finanzielles Engagement in der hiesigen Jugendarbeit?“
„Ja.“
Winterstein öffnete seine neue Lieblingstasche und fingerte das Diktiergerät und den Schreibblock heraus. „Sie gestatten?“
Freiherr Graf von Wiltberg nickte. Winterstein stellte das Diktiergerät auf die Glasplatte und schaltete es ein. Sein Blick ruhte kurz auf der Karte der Antarktis.
„Also“, sagte von Wiltberg, „fragen Sie!“
Daniel hüstelte und sah von Wiltberg in die Augen. „Bevor wir das Interview beginnen, wollte ich noch Ihre Meinung zu den bedauerlichen Ereignissen in der Ruine von Gerswalde hören.“
Der Graf hob eine Augenbraue. Abermaliges Nicken. „Meinetwegen.“
„Der Tod einer Achtzehnjährigen.“
„Siebzehneinhalb. Außerdem…“
Winterstein machte sich rasch eine Notiz. „Der Tod einer Siebzehneinhalbjährigen. Kannten Sie das Mädchen?“
„Nein, so würde ich es nicht ausdrücken. Wenn ich mich recht entsinne, befand sie sich letztes Jahr unter den Gästen meines alljährlich stattfindenden Sommerfestes. Immer ganz in Schwarz gekleidet, das Mädchen. Möglicherweise bin ich ihr auch ab und an im Supermarkt begegnet. Diese Welt hier ist recht überschaubar.“
„Sie gehen im Supermarkt einkaufen?“
Der Graf antwortete nicht, sondern hob nun beide Augenbrauen, und Winterstein wechselte schnell das Thema.
„Diese Sommerfeste sind ja eine Art Wohltätigkeitsveranstaltung, von deren Erlösen Sie kleinere und mittlere Unternehmen und soziale Projekte in der Region fördern.“
„Richtig. Das diesjährige Fest war das Achte dieser Art. Mittlerweile kommen die Leute aus Berlin, Hamburg und München hierher. Neulich hat der RBB darüber berichtet. Ich denke, wir haben damit schon eine ganze Menge positiver Impulse setzen können.“
„Die Bevölkerung hier liegt Ihnen bestimmt zu Füßen?“
„Ich leiste nur meinen bescheidenen Anteil zur Stärkung einer bezaubernden Region. Nicht umsonst nennt man die Uckermark die brandenburgische Toscana. Ich hoffe, Sie hatten Gelegenheit sich auf der Fahrt hierher ein wenig umzusehen.“
Winterstein nickte.
„Dann werden Sie mir sicherlich zustimmen.“
„Ja, ausgesprochen beschaulich, diese Landschaft. Trotzdem ziehen viele Menschen weg. Besonders die jungen Leute.“
„Leider. Außer einigen wenigen Jobs in der Landwirtschaft gibt es hier nicht allzu viele Arbeitsmöglichkeiten. Und seit die EU sich in Richtung Osten erweitert hat, wird es in dieser Branche auch immer schwieriger. Mein Engagement zielt darauf ab, die Leute dazu zu bewegen, hier zu bleiben. Bedauerlicherweise muss man allerdings auch eingestehen, dass es hier nicht gerade von Visionären wimmelt. Leider. Die Uckermärker waren diesbezüglich schon immer… sagen wir mal ausgesprochen bodenständig.“ Graf von Wiltberg lächelte nachsichtig.
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