„Sag mal, du bist doch gestern mit deinen Eltern hier angekommen und wohnst dort drüben?“ Sie wies in die Richtung des kleinen Bungalowdorfes. Die Gedanken an Jens Graichen donnerten über die Ostsee und erfroren irgendwo am Nordpol. Sollten sie!
Das schöne Mädchen mit dem betörenden Duft hatte mich also wahrgenommen. Der Takt meines Herzens nahm an einer Olympiade teil und gewann.
„Ja“, antwortete ich und gab mir große Mühe, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Am Besten wäre cool, „Gestern Nachmittag. Ich bin übrigens Philipp.“ In dieser Sekunde war ich unglaublich stolz auf mich. Besser hätte es nicht laufen können. Das Mädchen reichte mir eine braungebrannte Hand.
„Ich heiße Tanja.“ Erneut war sie gezwungen, zu niesen.
„Oje, bist du erkältet?“
„Nein“, antwortete Tanja. Das habe ich immer im Sommer. Wahrscheinlich irgendeine Allergie. Woher kommst du?“
„Aus Altenburg. Und du?“
„Das ist ja ein Ding. Ich auch!“
Was für eine Fügung! Schon sah ich uns durch Altenburg Arm in Arm schlendern und uns auf einer Bank am Großen Teich küssen.
Sie schüttelte so ungläubig den Kopf, als wären wir uns irgendwo in Sibirien über den Weg gelaufen, oder in Australien.
„Das ist ja wirklich ein Ding. Ich habe hier schon Leute in unserem Alter aus Halle, Dessau, Weimar und Berlin kennen gelernt. Aber noch niemanden aus Altenburg.“
Bis ich der übelgelaunten Verkäuferin meine Brötchenbestellung mitteilen konnte, verbrachten wir die Zeit mit Plaudern. Wir redeten über Altenburg, was an der Stadt schön war, verglichen Namenslisten, ob jemand Bekanntes darunter war und schließlich lud sie mich am Nachmittag zum Volleyball spielen am Strand ein. Die Unverschämtheit der Verkäuferin konnte ich leicht ignorieren und wartete fröhlich pfeifend, bis Tanja ihr kleines Einkaufsnetz mit Brötchen gefüllt hatte.
Den Weg zu den Bungalows gingen wir zusammen. Fortan sollten wir jeden Morgen diesen Weg gemeinsam gehen. Bis... Ja, bis es passierte.
Meine Mutter hob skeptisch die Augenbrauen, als ich euphorisch die Tür unseres Bungalows aufschlug und jubelnd: „Guten Morgen!“, verkündete.
Sie sah zuerst mich an, dann zu meinem Vater und der zu mir.
„Haben wir uns nicht schon einen guten Morgen gewünscht? Oder bringe ich da etwas durcheinander.“ Sein breites Grinsen war ekelhaft.
Pah! Am Nachmittag, genau genommen um 14.00 Uhr, würde ich mit Tanja Volleyball spielen. Und ganz sicher würde ich es so hinkriegen, dass wir zusammen in eine Mannschaft kämen. Vielleicht alle Altenburger gegen den Rest? Nein, das war Quatsch. Aber irgendwie würde ich es drehen. Soviel stand fest.
„Na und! Ich habe eben gute Laune. Freut euch doch!“
Meine Eltern freuten sich und beschlossen nach dem Frühstück in der Ostsee anzubaden. Ich widmete mich unterdessen meinen Vorbereitungen.
Erst machte ich fünfzig Liegestütze, das hatte ich lange nicht mehr getan. Bei dreiundvierzig drohten mir die Arme einzuknicken, aber ich schaffte es. Danach beugte ich hundert Mal die Knie, um meine Beinmuskulatur zu trainieren. Das war zum Glück weniger mühsam. Als ich damit fertig war, wählte ich die Badehose aus. Ich besaß zwei. Die eine war aus dem Kinderkaufhaus und sah dämlich aus. Die andere hatte meine Großmutter aus grün-schwarzem Stoff genäht und wirkte viel männlicher. Die Frage der Auswahl stellte sich also nicht. Um nicht gleich am ersten Tag zu verbrennen, zog ich mein „Led Zeppelin“ Nicki über den Oberkörper. Fertig! Ich schaute auf die Uhr. Es war 11.30 Uhr. Noch zweieinhalb Stunden. Ich ging zu meinem Koffer, zog Herrmann Hesses: Steppenwolf heraus und setzte mich vor dem Bungalow auf die Treppe und las. Nach wenigen Minuten wurde ich zu Harry Haller und genoss es.
Pünktlich um 14.00 Uhr trottete ich zum Strand und tat möglichst gelangweilt. Ich stellte mich auf einen der kleinen Sandhügel und hielt Ausschau nach Tanja. Einen Blick zum FKK-Strand vermied ich.
Meine Eltern lagen nebeneinander in einem der blau-weiß gestreiften Strandkörbe und schliefen. Umso besser.
Der Volleyballplatz war noch leer. Die Ostsee schlug Wellen. Der Wind kam vom Meer, war aber nicht kalt. Bevor ich zum Strand gegangen war, hatte ich mich mit Sonnencreme eingeschmiert und roch jetzt am ganzen Körper nach Sommer. Tanja war nirgends zu sehen.
Unschlüssig, was ich jetzt machen sollte, schlenderte ich zum Ufer der Ostsee und suchte den Strand nach flachen Steinen ab. Immer wieder sah ich mich verstohlen um, aber Tanja konnte ich nirgends erblicken.
Lustlos warf ich einen Stein nach dem anderen ins Meer und bemühte mich, meine Technik zu verbessern, um die Steine zum Springen zu bringen. Wegen der Wellen war das schwierig. Ich überlegte kurz, ob ich nicht besser meinen Plan mit den Nacktvolleyballerinnen ausführen sollte, verwarf dies aber sofort, denn dann würde ich Tanja womöglich verpassen.
Das Höchste, was ich schaffte, war, dass ein Stein dreimal über die Wasseroberfläche sprang.
Die Steine hopsen zu lassen, wurde langweilig, als begab ich mich halbherzig auf Muschelsuche. Wegen des auflandigen Windes war das Ufer mit Muschelschalen übersät. Wenn man hin und herlief, knirschte es unter den Füßen. Ich wühlte ein paar Minuten in den Muschelkadavern, fand aber kein Exemplar, das es lohnte, aufzubewahren. Dann überlegte ich, baden zu gehen, aber da hätte ich mich danach erneut eincremen müssen. Auch dazu hatte ich keine Lust.
Von irgendwoher kam Pfirsichduft und ein paar Sekunden später stand sie neben mir.
„Hallo, Philipp. Du wartest, oder?“
„Nein, ich suche Muscheln. Guck mal, die hier.“ Ich griff rasch wahllos in den Haufen Muschelkalk und schaffte es tatsächlich, eine besonders Schöne heraus zu puzzeln. Die legte ich Tanja in die Hand. Eine gewöhnliche Herzmuschel, die am oberen Rand eine rötliche Färbung trug.
„Für mich?“
Einen Moment lang war ich überfordert.
„Ja.“
„Danke!“ Tanja drehte die Muschel hin und her und hielt sie dann gegen die Sonne. Ich verfolgte ihre Musterung und war sprachlos. Diese Muschel war zwar schön, aber davon lagen hier bestimmt Hunderte im Sand.
„Christiane und Johannes sind mit ihren Eltern nach Polen gefahren und Silvio hat einen üblen Sonnenbrand. Das wird wohl heute nichts mit dem Volleyball. Hast du vielleicht Lust auf einen Strandspaziergang?“
Was für eine Frage! Ich schielte rasch zum Strandkorb meiner Eltern und registrierte, dass sie immer noch schliefen.
„Natürlich.“
„Wollen wir hier lang gehen oder in die andere Richtung?“ Sie zeigte in beide möglichen Richtungen. Rechts von uns spielten irgendwo die Nackten Volleyball. Dorthin wollte ich auf keinen Fall. Tanja hatte natürlich keine Ahnung von meiner merkwürdigen Vorstellung des Paradieses und nun musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass wir uns quasi auf einer Insel befanden. Auf einer Textilinsel. Links und rechts umgeben von FKK-Stränden.
„Ist egal.“ Das war es wirklich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diesen Spaziergang überstehen sollte. Und dabei gab es nichts Schöneres. Nichts!
Wir schlenderten los. Tanja trug einen weißen Bikini, ich meine grün-schwarze Badehose, genäht an drei Winterabenden von meiner Großmutter, und das Led Zeppelin Nicki.
Tanjas Brüste waren schon gut entwickelt. Ich schätzte ihr Alter auf Sechzehn.
„Wie alt bist du?“, fragte ich und Tanja sah mich an.
„Schätz mal.“
„Sechzehn.“
„Nein, ich bin Fünfzehn. Vor zwei Monaten geworden.“
„He, da sind wir ja fast gleichaltrig. Ich werde in einem Monat Fünfzehn.“
Bis jetzt lief alles wunderbar.
Nach ungefähr 300 Metern baute sich vor uns ein in den Sand gerammtes Holzschild auf: FKK-Strand. Irgendjemand hatte eine kindliche Fratze darauf gemalt.
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