Es war Mittag und es war heiß. Ich trug natürlich meine geliebte Levis und ein Nicki mit einem darauf gedruckten Foto von Led Zeppelin. Das hatte ich von Kai Wagner gegen ein Pornoheft getauscht, das ich für dreißig Mark von Ralf Zschiedrich gekauft hatte. Ralfs Vater war Volkspolizist und hatte irgendwann einen ganzen Stapel dieser Hefte konfisziert. In unserer Klasse gab es zahlreiche solcher Geschäfte.
Ich schwitzte. Insgeheim hoffte ich, dass mein Traummädchen uns entgegen kam und da der kleine Weg so schmal war, wir uns dann zwangsläufig berühren mussten. Stattdessen versperrte uns ein fetter Urlauber den Weg und schubste mich beinahe in die Büsche.
Meine Mutter war vom Strand entzückt, mein Vater war vom Strand entzückt. Ich war darüber entzückt, dass sich keine zweihundert Meter von unserem Strand entfernt ein FKK-Strand befand. Das Paradies eines Fast-Fünfzehnjährigen. An einem geheimen Ort in meinem Zimmer zu Hause, hatte ich ein kleines Heftchen mit Fotos von nackten Frauen versteckt. Die Fotos stammten aus dem Magazin oder der Funzel – einer Seite aus dem Eulenspiegel. Diese harmlosen Nacktfotos spielten natürlich mehr oder weniger kleine oder größere Rollen in meiner Phantasie. Außerdem besaß ich noch eins von den konfiszierten Pornoheften, mit riesigen Aufnahmen auseinander gezogener Schamlippen oder ejakulierenden Schwänzen, aber das kleine Heftchen mit den Bildchen mochte ich lieber.
Was ich hier sehen könnte, übertraf alles, was ich jemals zu Hause unter meiner Bettdecke herbei phantasiert hatte. Hier spielten sogar nackte Frauen Volleyball. Ich bekam sofort eine schmerzhafte Erektion.
Das Thema FKK war für meine Eltern tabu. In diesen Dingen waren sie beide ähnlich schamhaft wie Pubertierende. Niemals würden sie eine Sauna ohne Badebekleidung betreten oder etwa nackt am Strand herumlaufen. Als ich meinen Vater das erste Mal unbekleidet sah, war ich Neun. Das war unter der Dusche in der Altenburger Schwimmhalle und wir waren, glaube ich, beide ein bisschen verlegen. An eine eventuelle Nacktheit meiner Mutter erinnere ich mich überhaupt nicht.
Gab es irgendwo im Fernsehen eine Liebesszene, in der eine entblößte Frauenbrust zu sehen war, hätte man die Luft in unserem Wohnzimmer knistern hören können.
An unserem Strand gab es ebenfalls einen Volleyballplatz, wo mit Badehose, Badeanzug oder Pulli gespielt wurde. Eine Gruppe Mädchen, Jungen, Männer und Frauen sprangen hoch oder hechteten nach dem Ball. Unter ihnen waren Ramona, Andreas, Silvio, Markus und seine Schwester Christiane. Schon bald sollten sie in diesem Urlaub meine besten Freunde werden.
Statt der Ostsee die gebührenden Aufmerksamkeit zu widmen, wie es mein Vater und meine Mutter taten, warf ich schon mal verstohlene Blicke hinüber zum FKK Strand. Ich konnte so tun, als suchte ich Steine am Strand und mich so langsam diesem Paradies nähern.
Ein guter Plan! Ein verdammt guter Plan!
Zurück im Bungalow machte sich meine Mutter sofort an der kleinen Kochnische daran, das Essen zuzubereiten. Das Wasser zum Kochen und zum Waschen musste ein paar Schritte entfernt von unserem Bungalow geholt werden. In der Mitte eines kleinen Platzes ragte ein Rohr mit einem gusseisernen Hahn einen halben Meter in den Himmel. Das war die Wasserversorgung der Bungalowsiedlung. Diese Arbeit erledigte mein Vater. Als die Spaghetti und die Tomatensoße kochten, gingen wir zu dem Tisch, der zwischen unserem und dem Bungalow unserer Nachbarn in den Sand einbetoniert war, setzen uns auf eine der drei Bänke und aßen unter freiem Himmel. Meine Eltern tranken Bier, ich eine Vita-Cola .
Vor dem Einschlafen musste ich zweimal zur Toilette rennen, um zu onanieren und erschlug dann zwölf Mücken in meinem Zimmer. Die Hälfte davon lauerte schon an der Wand über meinem Kopfkissen.
Noch 240 Stunden bis zur Katastrophe.
In der Nacht träumte ich von nackten Volleyballspielerinnen, die mit weit gespreizten Beinen über das Netz sprangen …
Es gab noch keine Vorwarnung, kein Zeichen. Nicht das Kleinste.
Wie alle FDGB-Bungalowsiedlungen an der Ostsee besaß auch diese einen kleinen Konsum . Hier konnte man morgens frische Brötchen, Bier, Limonade, Lebensmittel oder Zahncreme oder Campingkocher kaufen. Das Angebot war nicht üppig, aber es reichte.
Am nächsten Morgen wurde ich zum Brötchen holen geschickt. Meine Eltern bereiteten das Frühstück, und ich trabte los.
Mindestens drei Minuten starrte ich auf den Bungalow, in dem ich das schöne Mädchen verschwinden gesehen hatte, aber dort rührte sich noch niemand. Vielleicht war sie mit ihrer Familie schon am Strand.
Vor dem kleinen Konsum wartete eine Schlange von mindestens dreißig Menschen. Die meisten trugen Badesachen. Frauen mit geblümten Küchenschürzen und Männer mit grellbunten Hemden. Manche waren mit einer dunklen Bräune überzogen, andere noch käsig oder bereits rotgegrillt.
Ich stellte mich an. Meine Mutter hatte mir aufgetragen, zehn Brötchen zu kaufen und mir dafür eine Mark gegeben. Die fünfzig Pfennig, die übrig bleiben würden, durfte ich behalten.
Vor mir unterhielten sich zwei Frauen über die Waschmöglichkeiten im Bungalowdorf.
„Ich wasche alles mit der Hand in einer Plastikschüssel“, sagte die eine, „aber das mit dieser Wasserschlepperei ist wirklich nervend. Ehrlich!“
„Auf so einem Gedanken würde ich niemals kommen“, sagte die andere, „mein Mann und ich nehmen immer soviel Sachen mit, dass es reicht. Schließlich haben wir Urlaub! Außerdem scheuert man sich mit dem Zeug immer die Hände wund.“ Die Frau meinte Linda- Neutral, eine Waschpaste in einer schwarzen verschraubbaren Plastikdose. Meine Mutter benutzte die Waschpaste ebenfalls, um damit bisweilen meine Levis zu schrubben.
Ein zarter Hauch eines wunderbaren Duftes streifte meine Nase. Abrupt drehte ich mich nach der Quelle um und wäre um ein Haar mit Tanjas Kopf zusammen gestoßen. Sie stand direkt hinter mir.
Warteschlangen waren quasi das Aushängeschild der DDR. Es gab etliche Witze darüber und in der Distel wurden sie quasi bei jeder Vorstellung thematisiert.
Diese Warteschlange vor dem Konsum in Ückeritz war die schönste Warteschlange auf der ganzen Welt. Und ich hätte bis zum nächsten oder übernächsten Tag darin stehen wollen, hätte ich irgendeinen Einfluss darauf gehabt.
Nach fünf aufregenden Minuten hörte ich das erste Mal ihre Stimme. Sie nieste und gab einen kleinen Ton von sich. Das war mein Auftritt. Und vielleicht meine einzige Chance. Vor Kühnheit fast betäubt, flüsterte ich.
„Gesundheit.“
Das Mädchen nieste ein zweites Mal. Wieder flatterte ein Ton ihrer Stimme in mein Ohr.
„Danke.“ Leider hatte ich nur ein benutztes Stofftaschentuch in meiner Hosentasche und kein frisches aus Papier. Sonst wären wir vielleicht sofort ins Gespräch gekommen. Und zu meinem Entsetzen tönte es gleich mehrfach aus der Schlange:
„Gesundheit!“, „Gesundheit!“, „G´sundheit...“
Tanja lächelte verlegen und nickte in alle Richtungen. Vielleicht verdankte ich es diesem Umstand, dass sie ein bisschen näher an mich heranrückte. Während sie sich für die Aufmerksamkeit bedankte, kitzelte mir ihr schulterlanges, lockiges Haar am Hals. Ihr Haar war dunkelbraun, fast schwarz. In der Mitte war es gescheitelt, eine gelbe Haarspange bändigte die Locken auf der rechten Seite und es roch frisch gewaschen. Ein Geruch, den ich aus dem „Intershop“ kannte, aber dort war ich nicht oft. Bestimmt hatte sie reiche Westverwandte und wusch ihr Haar nur mit Schauma. Schauma kannte ich aus der Werbung im ZDF mit den Mainzelmännchen, die ich liebte. Ich hatte keine Ahnung wie dieses Shampoo roch. Der Duft besaß eine Pfirsichnote und war äußerst betörend. Ich musste an etwas Schlimmes denken, damit ich keine Erektion bekam. Also dachte ich an Jens Graichen, mit dem ich mich vor Kurzem geprügelt hatte. Jens hatte Annette Beier – eine Mitschülerin von uns beiden – geohrfeigt. Er war eifersüchtig, weil ich mich mit Annette nach einer Alberei in der Hofpause geküsst hatte. Ich fühlte mich verantwortlich für sie und sprang ihr zur Seite. Nach der Prügelei war mein linkes Auge blau, meine Nase blutig und beide Lippen gesprungen. Jens hatte nicht einmal einen Kratzer davon getragen. Ich war, im Gegensatz zu ihm, im Schlagen ungeübt und hatte ihn nicht ein einziges Mal getroffen. Annette hatte mir geholfen, das Blut aus dem Gesicht zu waschen und geschworen, niemals wieder ein Wort mit Jens zu reden. Ein paar Tage später sah ich sie beide zusammen unter der Trauerweide neben unserer Schule herumfummeln. Zu Recht hasste ich Jens Graichen aus tiefstem Herzen.
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