Zugegeben, die Zusammenstellung meiner Musik war manchmal in der Tat ein bisschen merkwürdig. Aber manche Jahre waren auch merkwürdig gewesen.
Eine typische Hannah- Eigenschaft war, die Musik während der Autofahrt zu vergessen.
Rachel´s Musik for Egon Schiele und Rachel´s Handwriting Ip würde bis Zinnowitz endlos spielen. Soviel war sicher. Irgendwann hörte sie wahrscheinlich nicht mehr hin und die CD begann von vorn. Es machte keinen Unterschied, ob wir drei oder dreißig Stunden für die Fahrt benötigten. Wir würden bis der Tank leer gefahren war, Rachel´s hören.
Ich überließ mich meinen Gedanken und zählte die Kreuze am Fahrbahnrand.
Auf den meisten standen nur die Vornamen der Verunglückten. Stephan, Mandy, Klausi, Claudia, Thomas. Darunter verschiedene Daten. Einmal war an einer verbeulten Leitplanke vor einer von Miniermotten befallenen Kastanie nur ein Datum gesprüht: 28.08.06
Schwer zu sagen, ob da jemand tödlich verunglückt war, oder nur die Leitplanke zertrümmert hatte.
„Mittlerweile ist fast die ganze B 96 mit Leitplanken flankiert“, sagte ich zu Hannah. „Ich finde, die Straße wirkt dadurch enger. Und außerdem wird durch die Leitplanken irgendwie der Charakter einer Allee zerstört. Findest du nicht auch?“
Hannah war auf den Verkehr konzentriert. Seit zehn Minuten schlichen wir hinter einem Laster her, der für ALDI fuhr. Das Überholen war schwierig.
„Kannst du mir eine Zigarette anzünden, Schatz?“
Ich zündete Hannah eine Zigarette an und reichte sie ihr.
„Hm, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“
„Wenn jetzt jemand mit seinem Fahrzeug liegen bliebe, gäbe es sofort einen Stau. Man kommt ja nicht mehr von der Straße runter. Ich finde diese Leitplanken überflüssig.“
„Ich auch.“
Hannah schaltete in den vierten Gang runter und gab Gas. Der ALDI-Laster lag hinter uns, die Leitplanken-allee vor uns. Beim Überholen hatte ich ein Kreuz am Straßenrand nicht sehen können, ich sah nur einen Blumenkranz an einem Baum im Rückspiegel und zählte es trotzdem mit.
Je weiter wir nach Norden kamen, umso zahlreicher wurden die Windräder. Manchmal waren es sogar mehr Windräder als Bäume oder Kühe.
Hannah und ich hatten uns einmal unter einem solchen Windrad geliebt. Das war in der Nähe von Feldberg. Wir besuchten das Fallada-Haus in Carwitz und den Fallada- Friedhof und gingen dann im Hullerbusch spazieren. Hans Fallada hatte diesen Weg in mehreren Geschichten beschrieben.
Es war betörend. Über uns rauschte das Windrad und gab einen merkwürdigen Ton von sich. Eine Art Pfeifen, als würde gleich eine Lunge zerplatzen. Hannah fand es toll.
Danach schrieben wir unsere Namen wie Teenager mit einem schwarzen Edding auf eines der Rotorenblätter eines Windrades, was gerade zusammen montiert worden war, aber noch nicht aufgestellt.
Ein paar Monate später, als wir nach unserem Windrad sehen wollten, standen an der gleichen Stelle so viele davon, dass wir beide nicht mehr genau sagen konnten, welches Windrad unsere Namen im Wind drehte.
Überhaupt hatten wir uns am Anfang unserer Beziehung oft im Freien geliebt. Einmal an einem der Drei heiligen Pfuhle in Wandlitz oder auf einem Hügel in der Uckermark in der Nähe von Gerswalde – ich sehe noch die schottischen Kühe mit ihren langen braunem, zottigem Fell, ein paar Meter vor uns.
Wir hatten uns am Wutzsee geliebt bei Lindow oder am Oder-Havel Kanal. Einmal sogar auf einem Waldweg unweit von Borgsdorf – zum Glück kamen keine Spaziergänger.
Hannah öffnete einen Spalt breit das Fenster und warf ihre Kippe auf die Straße. Mein Wagen besaß keinen Aschenbecher. Ein Nichtraucherauto. Eigentlich eine Umweltsauerei, wozu Hannah da gezwungen war, dachte ich. Ich sollte einen Aschenbecher im Auto deponieren. Für Hannah.
Geschlechtsverkehr hatten wir immer noch regelmäßig. Zwar nicht mehr so oft im Freien, aber regelmäßig.
Hannahs und meine Interessen waren in vielen Punkten ähnlich. Hannah mochte Theater, ich mochte Theater. Am liebsten das BAT – die Probebühne der Schauspielschule Ernst Busch . Die Aufführungen waren gewissermaßen jungfräulich, die Schauspieler und Regisseure standen noch ganz am Anfang und waren bemüht alles zu geben, was sie geben konnten. Hannah mochte Kino, ich ebenfalls. Allerdings brauchte es immer eine Weile, bis wir uns auf einen Film einigen konnten. Zweimal im Jahr gingen wir zusammen in die Oper und ab und an in ein Konzert. Im November ins Mozart- Requiem, meistens. Ich las gern, sie ebenfalls. Bei mir war die literarische Palette ziemlich willkürlich. Ich liebte Nabokov, las aber auch Tom Robbins, John Irving, Dan Brown, Carl Hiassen oder Helmut Krausser. Hannah bevorzugte Krimis. Ganz oben auf ihrer Krimiliste standen Krimis von Henning Mankell.
Kinder hatten wir beide keine. Ich hatte irgendwann beschlossen, dass die Menschheit besser aussterben sollte und einen Nicht-Fortpflanzungs-Eid geschworen. Und Hannah ging derart in ihrer Arbeit auf, dass sie möglicherweise gar keine Zeit fand, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.
Im Grunde waren wir das perfekte Paar. Allerdings unterschied uns etwas grundsätzlich. Hannah ging auf jeden Menschen zu, und war dieser auch der größte Depp. Ich war wohl eher so etwas wie ein Misanthrop – ich war viel für mich, brauchte lange, bis ich Vertrauen fasste und mied Gespräche, wenn sie nicht unbedingt sein mussten.
Als ich sechzehn Kreuze gezählt hatte, schlief ich ein.
Ich erwachte, als der Wagen auf den Parkplatz des Baltic rollte. Inzwischen war es dunkel geworden. Ich fühlte mich ein bisschen benommen und Hannah war vom Landstraße fahren erschöpft.
Das Baltic war ein riesiger Klotz aus Beton und Glas. Ein aufpolierter ehemaliger Plattenbau.
Das Foyer mit der Rezeption war allerdings geschmackvoll. Eine überdimensionale Theke aus polierter Buche schwang sich im Halbkreis um eine freundlich blickende junge Frau. Eine Reihe großer Palmen vermittelte einen Hauch südlichen Flairs und eine in Orange gehaltene Lichtkomposition strahlte Wärme und Gemütlichkeit aus.
Ich war angenehm überrascht.
Hannah hatte ein Zimmer mit Meerblick via Internet gebucht. Ich hatte bei diesen Transaktionen einige Vorbehalte, unter anderem wegen der möglichen darauffolgenden Spam-Flut, deshalb telefonierte ich lieber oder erschien persönlich in einem Reisebüro. Außerdem war ich mir nie sicher, ob das alles auch funktionierte. Hannahs Buchung war perfekt. Die junge Frau lächelte, nannte unsere Namen und hieß uns willkommen. Wir nahmen den Zimmerschlüssel in Empfang, gingen zum Fahrstuhl und fuhren in die fünfte Etage.
Im Zimmer stand ein Doppelbett, ein kleiner Schreibtisch mit Minifernseher, darunter die Minibar und zwei große kompakte Schalensessel. Auf dem Schreibtisch lagen Broschüren von den Angeboten des Hotels, einigen Ausflugsmöglichkeiten per Schiff oder Bus und die Preisliste der Getränke aus der Minibar. Ich fand 3 Euro Zwanzig für eine 0,33 Liter Flasche Bier übertrieben und verzichtete. Neben dem Eingang zum Bad war ein Kleiderschrank in die Wand eingelassen. Als Willkommensgruß lag je eine kleine Tüte Goldbären von Haribo auf den Kopfkissen.
Hinter den aufgeklappten großen Fenstern konnte man tatsächlich das Meer hören. Um es sehen zu können, war es draußen schon zu dunkel.
Hannah warf ihre Reisetasche mit der gleichen Bewegung neben das rechte Bett, wie sie die Tasche Stunden zuvor auf die Rückbank meines Autos geworfen hatte. Dann verkündete sie:
„Ich habe Hunger.“
Wir fuhren mit dem Fahrstuhl wieder nach unten und gingen ins Hotelrestaurant. Ein Mann Mitte Dreißig saß an einem Tisch am Fenster, trank Rotwein und las einen Artikel im SPIEGEL . Ansonsten war das Restaurant von Gästen verschont. Die Köchin, die hinter einer Art Tresen mit allerlei Küchengerätschaften vor aller Augen ihre Speisen zubereitete, putzte die zuletzt benötigten Utensilien und überreichte dann die Verantwortung für die Küche ihrer Gehilfin. Offensichtlich hatte sie Feierabend.
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