Der Vater wusste von jenen anderen Fällen in den Nachbardörfern. Eines dieser Kinder hatte er gesehen und sein Anblick hatte ihm gar nicht gefallen. Diese Krankheit schien ihm eine schwere Prüfung zu sein. Schweren Herzens begab er sich zum Krankenbett seiner Tochter.
"Na, mein Mädchen, wie geht es dir denn?"
Emma schaute ihn nur mit großen Augen an, in denen dicke Tränen standen, die langsam ihre Wangen hinunter kullerten.
"Mutter wird dich morgen begleiten. Die im Krankenhaus wissen sicher, wie sie dir helfen können. Das wird schon wieder..."
Emma nickte tapfer. Doch ihr Vater konnte ihre Skepsis spüren und noch mehr ihre Angst. Nicht stehen und nicht gehen zu können. Er mochte sich kaum vorstellen, was das für seine Tochter für die Zukunft bedeuten konnte.
Emma schlief nicht viel in jener Nacht. Der Schmerz in den Beinen hatte dank der warmen Umschläge zwar etwas nachgelassen, aber sie fürchtete sich vor morgen, vor dem Krankenhaus. Sie hatte noch nie eines von innen gesehen, aber sie hatte gehört, dass man nur mit ernsten Krankheiten dort eingewiesen wurde und dass nicht jeder gesund wieder heraus kam.
Die Morgendämmerung zog gerade herauf, als Emmas Mutter den Kopf zur Tür hereinstreckte. Als sie sah, dass Emma wach war, trat sie ans Bett.
"Na, wie geht es dir denn jetzt? Hast du ein bisschen geschlafen?"
"Es geht so."
"Ich mach gleich Frühstück. Papa ist auch schon wach. Er trägt dich nachher zum Bahnhof. Und jetzt machen wir schnell noch neue Umschläge."
Nachdem die Prozedur mit der Bettpfanne erledigt war, befüllte die Mutter die Wärmflaschen neu mit heißem Wasser, wickelte sie in dicke, angefeuchtete Tücher und schob sie Emma unter die Oberschenkel.
Während sie noch das Frühstück für Emma bereitete, kam bereits ihre Schwägerin vorbei, um Thea abzuholen. Sie war froh, dass sie den kleinen Quirl nicht mit auf die Reise nehmen musste.
Sie half Emma beim Frühstück, damit diese wenigstens ein paar Bissen zu sich nahm, und kleidete sie an. Als es Zeit war, zu gehen, erschien Emmas Vater mit einer großen Decke, wickelte sie sorgsam darin ein und nahm sie auf seine Arme. Emma kuschelte sich an seine Schulter und genoss die so seltene Nähe auf dem kurzen Weg zum neuen Bahnhof, der ihr Dorf mittlerweile mit der Welt da draußen verband. Es war keine zwei Jahre her, dass dies Aufgabe der Postkutschen war, die klappernd und polternd regelmäßig an ihrem Haus vorbeigefahren waren.
Der Arzt traf wenige Minuten nach ihnen in der großen Wartehalle ein, begrüßte sie mit einem Kopfnicken und trat zunächst an den Fahrkartenschalter, um die Billets samt der Reservierung abzuholen, die seine Sprechstundenhilfe noch gestern gemäß seinen Anweisungen bestellt hatte.
Als er sich zu der kleinen Familie gesellte, ertönte auch schon von Ferne das Pfeifen der Lokomotive des einfahrenden Zuges und alle potentiellen Fahrgäste traten durch die große, verglaste Schwingtür hinaus auf den Bahnsteig.
Die große schwarze Dampflok drosselte zischend ihre Geschwindigkeit und kam schließlich mit ohrenbetäubendem Quietschen zum Stillstand.
"Wir haben ein Quarantäne-Abteil im hinteren Teil des Zuges. Da erwischt uns der rußige Qualm nicht so. Folgen Sie mir!"
Mit gewohnt langen Schritten stürmte der Arzt voran. Der Schaffner erwartete sie bereits an der geöffneten Tür und wies nach rechts in den Gang. Behutsam trug der Vater Emma die hohen Stufen hinauf und folgte dem Arzt, der eine Abteiltür offen hielt, damit er mit seiner Last hindurch treten konnte. Die Sitzbank war auf einer Seite zur Liege umfunktioniert worden, mit dicken Kissen und einer warmen Decke, auf der Emma nun transportgerecht verstaut wurde.
Emma, ein Gepäckstück. So jedenfalls kam es ihr vor angesichts ihrer lahmen Beine. Sie hatte Mühe, sich von ihrem Vater zu lösen. Erst ein aufmunterndes und auch nachdrückliches Nicken der Mutter rief ihr ins Bewusstsein, dass er heute daheim anderen Pflichten nachzukommen hatte. Er schaffte es gerade noch, den Zug rechtzeitig vor der Abfahrt zu verlassen. Er lief einen Moment nebenher und winkte ihnen. Und dann waren sie schon aus dem Dorf heraus.
Emma war so gebettet, dass sie aus dem Fenster schauen konnte. Sie sah die Landschaft draußen in ungewohnter Eile vorüberfliegen, Felder und Wiesen, Bäume und Hecken und dann und wann einen Bauernhof vor einem strahlend blauen Frühlingshimmel. Noch nie waren sie oder ihre Mutter mit der Eisenbahn gefahren. Emma hatte bisher nicht einmal das Dorf verlassen. Das hier hätte ein großes Abenteuer sein können, eine Entdeckungsreise in die Weiten da draußen. Aber so konnte sie diese nur anschauen. Diese neue Welt Schritt für Schritt zu erspüren blieb ihr verwehrt.
Die Fahrt sollte etwas über eine Stunde dauern, mit drei Zwischenhalten in anderen Dörfern. Der Arzt untersuchte Emma kurz und wollte sich nun in seine Akten vertiefen, als Emmas Mutter sich verlegen räusperte.
"Herr Doktor, wir wissen, dass das hier nötig ist. Aber wie ist das mit den Kosten? Unsere Ersparnisse werden nicht sehr lange dafür reichen."
"Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Ihr Mann ist doch sozialversichert?"
"Ja, manchmal war es nicht leicht, aber wir haben regelmäßig eingezahlt."
"Dann wird die Versicherung den größten Teil der Kosten übernehmen. Den Rest werde ich versuchen, über die Beihilfe zu bekommen. Da diese Krankheit leider sehr ansteckend ist, liegt es im öffentlichen Interesse, dass betroffene Patienten isoliert und ärztlich behandelt werden. Das einzige, was Sie jetzt wirklich brauchen, ist sehr viel Geduld."
Und damit wandte er sich wieder seinen Akten zu, um nicht unvorbereitet bei seinen Patienten im Krankenhaus zu erscheinen.
Emma und ihre Mutter schauten sich stumm an. Was hätten Sie auch sagen sollen? Die bange Erwartung schnürte ihnen den Hals ab.
Am Zielort warteten zwei Krankenpfleger mit einer Trage auf dem Bahnsteig. Einer von ihnen trug Emma nach draußen und setzte sie vorsichtig auf der Trage ab. Emmas Mutter und der Arzt folgten den beiden zum Vorplatz des Bahnhofes, wo ein Krankenwagen bereit stand, ein cremeweißes Automobil mit großen roten Kreuzen an der Seite und den hinteren Türen.
Emma bekam große Augen.
"Bei uns im Dorf gibt es nur wenig Autos. Und so einen Krankenwagen hab ich da noch nie gesehen."
Der Arzt schmunzelte.
"Und jetzt wirst du sogar damit kutschiert."
Die Krankenpfleger hoben die Liege an und schoben sie hinten in den Wagen. Der Arzt kletterte hinterher, setzte sich an die Seite und deutete auf noch einen freien Platz neben sich. Emmas Mutter schob sich vorsichtig dort hinein.
Er gab den beiden Krankenpflegern einen kleinen Wink und der Krankenwagen setzte sich in Bewegung. Die luftgefüllten Reifen glitten weich über die Straßen, tausendmal weicher jedenfalls, als die eisenbeschlagenen Holzräder der bäuerlichen Leiterwagen. Die Pneus rollten und rollten und rollten. Das hatte etwas sanft Einlullendes und als das Auto die Klinik erreichte, war Emma eingeschlafen.
Der Krankenwagen fuhr durch das bewachte Eingangstor auf das Klinikgelände, dann links um das Hauptgebäude herum, bis zu einem kleinen Gebäude, an dessen Treppe zum Portal sie von einer Krankenschwester in Empfang genommen wurden. "Quarantäne-Station" verkündete ein großes Schild mit fett rot gedruckten Buchstaben am Eingang.
Entsetzt starrte die Mutter darauf. Ihr wurde auf einmal bewusst, dass sie mit ihrer Familie noch nie in einer so ernsten Lage gewesen war. Sicher, das Leben barg seine Gefahren. Eine Tochter war ihr gestorben, noch bevor sie sitzen konnte. Und sie waren nicht reich. Wenn alle fleißig mithalfen, kamen sie gerade so über die Runden. Solange sie gesund waren. Eine Krankheit wie diese, hochansteckend und langwierig, konnte alle ihre noch so bescheidenen Pläne zu Nichte machen.
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