"Hinten in die Ecke, Abmarsch!" brüllte er, und Doris verzog sich, immer noch weinend und schniefend, in die hintere dunkle Ecke des Raumes, wo sie für den Rest des Unterrichts stehen musste, mit dem Rücken zu den anderen Schülerinnen.
Diese hatten inzwischen stillschweigend deren Sachen vom Boden aufgehoben und auf ihren Platz zurück gelegt. Sie schauten sich mitleidig um. Mindestens eine Stunde still in der Ecke zu stehen war kein Spaß.
Emma ging trotzdem gern zur Schule, denn das Lernen machte ihr Freude. Sie erfuhr hier so viele Dinge, die sie sich in ihrem Leben nie hätte träumen lassen, und so traf sie ihre Krankheit umso härter.
Es war im Frühling 1912. Emma war gerade acht Jahre alt geworden und ging im dritten Jahr zur Schule. Sie konnte schon recht gut lesen und rechnen und freute sich mittlerweile besonders auf den Heimatkundeunterricht, wenn sie Geschichten über nahe und ferne Länder und bekannte oder exotische Tiere hörten oder selbst lasen. Auf der Landkarte in ihrem Klassenzimmer suchte der Lehrer mit seinem Zeigestock dann die Gegenden, in denen Löwen und Elefanten oder Krokodile zu Hause waren, und die Flugrouten der heimischen Zugvögel wie Störche und Schwalben, die alljährlich im Herbst einem geheimnisvollen inneren Kompass folgend gen Süden ziehen und sich erst im Frühling wieder sehen lassen.
Jetzt waren die Schwalben schon zurückgekehrt. Aus den zahlreichen Nestern an den Wänden der großen Bauernhäuser und vor allem deren Scheunen tönte lebhaftes Piepsen und die Altvögel beeilten sich, die hungrigen Schnäbel ihres Nachwuchses mit proteinreicher Nahrung zu stopfen. Emma konnte sich nicht satt sehen an den kunstvollen Manövern der pfeilschnellen Flieger und sah ihnen eine ganze Weile zu, als sie plötzlich niesen musste und ein unangenehmes Kribbeln im Halse spürte. In der Schule fehlten seit einigen Tagen schon ein paar Kinder wegen einer heftigen Erkältung. Sommergrippe nannten die Erwachsenen das und meinten, man solle sich besser davor hüten. Widerstrebend machte sie sich auf den Weg nach Hause, von Ferne noch die knorrige Stimme des öffentlichen Ausrufers Lüttjohann vernehmend, der gelegentlich als besonderen Service auch sonstige wichtige Nachrichten verkündete, und der jetzt gerade den Untergang eines Riesendampfers namens Titanic meldete, der mehr Opfer gefordert hatte, als ihr Dorf Einwohner zählte.
Ihre Mutter, die in der Küche gerade das Abendessen für die Familie vorbereitete, schaute sie ob ihres unerwartet frühen Heimkommens fragend an.
"Ich hab Halsschmerzen! Aber ich will doch nicht krank werden!"
Ihre Mutter wischte sich die Hände an der Schürze ab und beugte sich zur ihr herunter.
"Sag mal aaah! Mmh, ich kann da nichts sehen. Aber deine Stirn fühlt sich ziemlich heiß an. Wir müssen wohl mal Fieber messen. Pack dich aufs Sofa, ich bin gleich wieder da!"
Emma kuschelte sich auf das alte Sofa und wartete auf ihre Mutter, die einen Ausflug zum benachbarten Friseurmeister unternahm, der als einziger in der Nähe ein Fieberthermometer besaß und es ihnen kurz ausleihen konnte. Sie klemmte sich das Gerät unter den Arm und versuchte, möglichst still zu halten, damit es ihr nicht herunterfiel und zerbrach. Als ihre Mutter es ihr zehn Minuten später wieder abnahm und nachschaute, runzelte sie die Stirn.
"Fast 39 Grad! Du musst sofort ins Bett! Wickel den Schal um den Hals! Ich bring dir gleich eine heiße Milch mit Honig."
Mürrisch trippelte Emma in das Schlafzimmer der Mädchen, zog ihr warmes Nachthemd an, wickelte sich folgsam den warmen Wollschal um den Hals, obwohl sie dieses immer leicht kratzige Kleidungsstück nicht mochte, und verkroch sich unter der Bettdecke. Die prompt gelieferte heiße Milch ließ sich nur in kleinen Schlucken trinken, aber sie tat gut. Emma verspürte eine leichte Übelkeit. Die verging jedoch wieder. Als ihre Geschwister später das Zimmer stürmten, um zu sehen, was ihr fehle, verkündete die Mutter, dass die kleine Thea, mit der sie sich das Bett sonst teilen musste, vorläufig auf das Sofa ausquartiert werde. "Damit du sie nicht ansteckst." Ergeben schloss Emma die Augen und war bald eingeschlafen.
Am nächsten Morgen war das Fieber ein wenig zurückgegangen, aber der Hals schmerzte noch mehr und die Nase tropfte unablässig. So konnte sie nicht zur Schule gehen. Ganz im Gegenteil musste sie weiterhin das Bett hüten. Die Mutter machte ihr kühle Wadenwickel, um das Fieber zu senken, und heißen Lindenblütentee, um die Erkältung auszutreiben. Am Abend stieg das Fieber wieder an, diesmal begleitet von heftigem Schüttelfrost. Dazu gesellten sich Übelkeit und Erbrechen, obwohl sie kaum etwas zu sich nahm. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so elend gefühlt.
Drei Tage kämpften Emma und ihre Mutter, bis die Temperatur endlich deutlich zurückging und insgesamt eine Besserung eintrat. Eine weitere Woche später durfte Emma wieder zur Schule.
Die meisten der anderen erkrankten Kinder waren auch wieder da und lärmten und tobten während der großen Pause im Garten hinter dem Schulhaus wie eh und je. Jetzt, wo das Frühjahrshochwasser zurückgegangen war, konnte sie wieder ihren Schleichweg nach Hause nehmen, über die Brücke des Baches, der nun ruhig in seinem angestammten Bett dahinfloss, auf dem schmalen Trampelpfad entlang der tiefer liegenden Wiesen, auf denen die dicken, schwarz-weißen Milchkühe grasten und dann und wann den massigen Kopf schwenkten, um lästige Fliegen, Mücken und Bremsen zu verscheuchen. Dazwischen stakste hier und dort ein Storch gemessen über die Wiese, damit ihm kein Frosch und keine Blindschleiche entginge, das potentielle Abendessen für seinen Nachwuchs. Emma liebte diesen Pfad und war froh, ihn wieder benutzen zu können, denn sie fühlte sich noch recht schwach und dachte mit Grausen an den anderen Weg durch die Stadt, der deutlich länger war und den man nur benutzte, wenn es gar nicht anders ging.
Emma legte ihren Schulranzen im Haus ab und gesellte sich zu ihrer Mutter in den Garten, um ihr beim Unkraut jäten zu helfen. Insbesondere die von ihr heiß geliebten Erdbeeren sollten nicht davon überwuchert werden. Die Beeren waren schön groß gewachsen und zeigten vereinzelt bereits rote Bäckchen. Sorgsam befreite Emma die Pflanzen vom unerwünschten Wildwuchs und lockerte vorsichtig die Erde um sie herum, darauf achtend, dass sie weder deren feine Wurzeln, noch die Früchte beschädigte. Und dann waren noch Bohnen und Erbsen sowie weiteres Gemüse und Kräuter zu versorgen. So vergingen die nächsten fünf Tage nach der Schule mit leichter Gartenarbeit in Luft und Sonne und Emma gewann wieder an Kraft.
Warme Sonnenstrahlen suchten sich am frühen Morgen ihren Weg durch einen Spalt zwischen den Fenstervorhängen ins Schlafzimmer und zwangen Emma zum Blinzeln, als sie die Augen aufschlug. Thea, die nun wieder neben ihr lag, schlief noch wie ein Murmeltier und ließ nur ab und zu ein leises Schmatzen hören. Wovon sie wohl träumen mochte? Erdbeeren! So allmählich sollten die ersten Früchte reif sein und Emma würde sie pflücken, bevor ihr eines ihrer Geschwister zuvorkam.
Emma wollte sich aufsetzen und spürte plötzlich ein heftiges Ziehen in ihren Oberschenkeln. Nanu, ein Muskelkater konnte das ja wohl nicht sein, so sehr hatte sie sich doch nicht angestrengt. Sie versuchte es noch einmal und wollte dabei ihre Beine wie gewohnt aus dem Bett schwingen. Es ging nicht. Entgeistert starrte sie auf ihre Beine. Sie waren immer noch da, komplett und ordentlich angewachsen, wie es sein sollte. Aber sie gehorchten ihr nicht. Dafür war der Schmerz wieder da. Sie versuchte es noch einmal. Nichts. Aber der Schmerz wurde stärker. Sie bekam Angst. Vorsichtig drehte sie sich zu Thea und rüttelte an deren Schulter, um sie zu wecken. Diese brummte unwillig und zog die Decke fester.
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