"Thea! Wach auf! Du musst zu Mutter gehen und sie herholen."
"Mach doch selber!"
"Ich kann nicht! Nun komm schon, du musst mir helfen!"
Nun saß Thea kerzengerade im Bett und schaute auf ihre große Schwester herunter, die sichtlich mit den Tränen kämpfte. Sie verstand, dass es wohl ernst sein musste und tappte barfuß zur Tür, deren Klinke sie nur mit Mühe erreichte, dann aber doch auf bekam, und weiter zum Schlafzimmer der Eltern. Dessen Tür stand offen und die Betten waren aufgeschlagen. Also weiter zur Küche, wo sie ihre Mutter tatsächlich fand, die bereits den Herd angeheizt hatte, auf dem sie eine große Kanne Muckefuck warm hielt, den hier weit verbreiteten Getreidekaffee, der einzige, den sie sich leisten konnten.
"Thea, du bist ja barfuß. Zieh dir was an, sonst erkältest du dich noch!"
"Du musst zu Emma!"
"Warum? Was ist denn los?"
"Weiß nicht. Sie steht nicht auf."
"Na, dann wollen wir mal sehen."
Die Mutter nahm Thea auf den Arm und ging mit ihr zu Emma. Als diese jedoch auch mit Hilfe ihrer Mutter ihre Beine nicht bewegen konnte, wurde diese nervös. Während Thea sich nach wiederholter Mahnung endlich anzog, bereitete die Mutter Emma ein leichtes Frühstück, eine warme Milch und ein Brot mit Marmelade. Sie musste sie stützen, damit sie überhaupt etwas zu sich nehmen konnte.
"Ich hab kurz was zu erledigen. Thea nehme ich mit. Die Jungs sind mit Papa unterwegs. Du bist also eine Weile allein."
Die Mutter hatte da von einer Krankheit gehört, die vor allem Kinder befiel. Sie wusste von drei, vier Fällen in den Nachbardörfern. Alle bekannten Hausmittel hatten versagt. Sie musste also den Arzt um Hilfe bitten. Da es noch keine Telefone gab, um ihn herbeizurufen, wanderte sie nun zu dessen Praxis, um ihn persönlich zu holen.
Das Wartezimmer war mäßig besetzt. Hier kam nur her, wer es sich leisten konnte oder wer sich sonst keinen Rat mehr wusste. Eine Krankenschwester nahm die Daten der Patienten auf, versorgte zwischendurch kleinere Wunden oder assistierte dem Arzt, dem sie jetzt gerade ein Spritzbesteck ins Behandlungszimmer tragen wollte. Sie blickte auf, als die Mutter mit Thea an der Hand eintrat und direkt auf sie zu steuerte.
"Sie müssen schon im Wartezimmer Platz nehmen und warten, bis Sie dran sind."
"Ich kann aber nicht so lange von zu Hause wegbleiben. Meine Tochter Emma... Sie kann nicht aufstehen und ich weiß nicht, was ihr fehlt."
"Sie kann nicht aufstehen, sagen Sie? Warten Sie einen Moment, ich spreche mit dem Doktor."
Sie trat ins Behandlungszimmer und war kurz darauf mit dem Doktor zurück. Dieser bat sie in sein Sprechzimmer, ließ sich kurz die Vorgeschichte erzählen und rief die Schwester.
"Ich muss zu einem dringenden Krankenbesuch. Versorgen Sie die Patienten, soweit Sie können. Alle Anderen sollen am Nachmittag oder Morgen wiederkommen. Und halten Sie sich zur Verfügung, vielleicht brauche ich Sie nachher noch."
Der Arzt stürmte mit so langen Schritten voran, dass die Mutter mit Thea an der Hand kaum folgen konnte. Zu Hause angekommen, gingen sie gleich durch ins Schlafzimmer, wo Emma dem Arzt mit großen, angstvollen Augen entgegensah. Dieser fragte sie noch einmal genau nach dem Verlauf ihrer Erkältung und begann eine sorgfältige Untersuchung ihrer Beine. Durch vorsichtiges Tasten lokalisierte er den Schmerz, der ihre Oberschenkel in eisernem Griff hielt und versuchte dann, ihre Knie zu beugen. Es tat weh, aber die Gelenke ließen sich bewegen. Allerdings nur mit fremder Hilfe. Denn als Emma ihre Beine nun selbständig bewegen sollte, passierte nichts.
Der Arzt schaute auf Emmas Frühstück, das nahezu unberührt auf einem Hocker neben dem Bett stand.
"Hast du keinen Appetit?"
Emma schüttelte den Kopf.
"Der Hals tut noch weh."
"Tut der beim Schlucken auch weh?"
Kopfnicken.
Der Arzt schob Emma ein zweites dickes Kissen unter den Oberkörper, deckte sie sorgsam zu und wandte sich an die Mutter.
"Sie muss erhöht liegen, damit sie genug Luft bekommt. Versuchen Sie warme Umschläge gegen die Schmerzen. Helfen Sie ihr bei den Mahlzeiten und achten Sie gut darauf, dass sie sich nicht verschluckt. Ach ja, es darf natürlich keines Ihrer anderen Kinder bei ihr im Bett schlafen. Am besten halten sie die ganz fern. Ansteckungsgefahr!"
Der Arzt winkte sie aus dem Raum, schloss die Tür hinter sich und schaute die Mutter sehr ernst an.
"Es spricht alles dafür, dass wir es hier mit der sogenannten Kinderlähmung zu tun haben. In der Vergangenheit gab es hier und dort mal Einzelfälle. Aber seit ein paar Jahren breitet sie sich aus und wo sie ausbricht, wird leicht eine Epidemie draus. Sie müssen Emma unbedingt isoliert halten. Ihre anderen Kinder sind noch kleiner. Die Ansteckungsgefahr ist also sehr hoch."
"Und wie kann man das heilen?"
Die fast tonlose Stimme der Mutter suchte mitten in diesem Unheil nach Hoffnung. Doch der Arzt schüttelte den Kopf.
"Bisher wissen wir das nicht. Wir können nur versuchen, den Patienten den Schmerz zu lindern und ihnen allgemein die Lage zu erleichtern. Bei den meisten Kindern gehen die Lähmungen allmählich zurück. Aber das dauert sehr lange. Monate, manchmal ein ganzes Jahr."
Er holte tief Luft und seine Augen wurden ganz klein.
"Und dann gibt es noch die Gefahr einer Komplikation."
Der Arzt machte eine Pause und da die Mutter ihn fragend ansah und anscheinend auch den Rest erfahren wollte, sprach er behutsam weiter:
"Ihre Tochter hat Beschwerden beim Schlucken. Das kann noch eine Folge der ganz normalen Halsschmerzen von ihrer Erkältung sein. Wir wissen aber von Einzelfällen, wo die Lähmung auch den Brustkorb erfasst und die Atmung irgendwann zum Stillstand kommt. Wir müssen sie genau beobachten, damit wir rechtzeitig eingreifen können. Und das geht nur im Krankenhaus. Ich werde telegrafieren und Sie anmelden. Am besten packen Sie schon mal ein paar Sachen. Spätestens morgen werden wir Emma mit dem Zug in die Stadt und dort ins Hospital bringen. Die Schwester sagt Ihnen nachher Bescheid."
Und, nach einer kleinen Pause: "Es tut mir sehr leid."
Und damit stürmte er von dannen.
Emmas Mutter stand wie angewurzelt und rührte sich nicht, bis Thea, die an ihrem Rockzipfel hing, sich energisch bemerkbar machte.
"Mama, ich hab Hunger."
Sie nahm Thea an die Hand und ging mit ihr in die Küche. Geistesabwesend machte sie auch ihr heiße Milch und Marmeladenbrot, die diese mit sichtlich gutem Appetit verspeiste.
Sie erledigte verschiedenes im Haushalt und schaute zwischendurch immer wieder nach Emma, ob diese ihre Hilfe bräuchte und erneuerte die warmen Umschläge für die Beine. Dann packte die Mutter einen kleinen Koffer mit Emmas Sachen für das Krankenhaus.
Gegen Mittag kam die Sprechstundenhilfe des Arztes vorbei. Sie brachte eine Schnabeltasse mit, die Emma das Trinken erleichtern sollte und, noch wichtiger, eine Bettpfanne, denn Emma konnte nicht einmal selbständig ihren Nachttopf benutzen.
Sie informierte die Mutter, dass ab dem morgigen Tag ein Bett im Krankenhaus bereit sei und sie den Zug am frühen Morgen nehmen würden, in Begleitung des Arztes, der bei dieser Gelegenheit nach einigen Patienten sehen wolle, die er ebenfalls dorthin eingewiesen hatte.
Der Rest des Tages tropfte zäh dahin. Emma fühlte sich so hilflos und weinte still vor Schmerzen, während ihre Mutter ungeduldig auf die Rückkehr ihres Mannes wartete, um die Sachlage mit ihm zu besprechen.
Es dämmerte schon, als er und die beiden Söhne von der Feldarbeit heim kamen. Der Vater runzelte sorgenvoll die Stirn.
"Wenn das so ansteckend ist, können wir wohl nicht anders. Aber ob unser Erspartes für die Behandlung reichen wird? Wir müssen unbedingt mit dem Arzt über die Kosten sprechen. Am besten fährst du morgen mit ins Krankenhaus. Vielleicht kannst du da schon mehr erfahren. Thea bringen wir zu meiner Schwester, damit sie sich um sie kümmert. Die Jungs nehme ich wieder mit aufs Feld."
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