Emma war wieder aufgewacht. Das Klacken der hinteren Tür, als die Pfleger diese öffneten, um sie auf ihrer Trage herauszuheben, hatte sie aus einem Traum gerissen. Sie hatte sich tanzen sehen, mit fliegendem Rock, immer rund herum, rund herum, wie die Ballerina auf einer Spieluhr. Sie wollte auch wieder so tanzen. Also würde sie tapfer sein und allen Anweisungen der Ärzte und Krankenschwestern brav folgen, damit sie schnell wieder gesund würde.
Es ging ein paar Stufen hinauf, durch ein Portal mit einer riesigen schweren Holztür und dann durch eine große Schwingtür. Im langen Gang dahinter umfing sie der Geruch frisch gebohnerten Linoleums, gepaart mit jenem unangenehmen medizinischen Duft, den sie aus der Praxis des Zahnarztes kannte. Decke und Wände waren weiß, der Boden dunkelgrün. Hier und dort standen chromblitzende Gerätschaften am Rand, wartend auf ihren Einsatz. Selbst jetzt, mitten am Tage, war die Deckenbeleuchtung eingeschaltet, denn ein Fenster war nur am äußersten Ende des Ganges zu sehen.
Der Arzt wandte sich an Emmas Mutter.
"Bitte warten Sie hier. Wir besprechen anschließend alles weitere."
Emmas Zielort war ein Krankenzimmer mit insgesamt sechs Betten, das mit ihr nun komplett belegt war.
Der Arzt wies mit einer Geste in die Runde.
"Die anderen Mädchen hier haben dasselbe wie du. Wir wollen ja nicht, dass sich Unbeteiligte anstecken. Worauf du alles achten musst, erklärt dir die Schwester nachher. Oberstes Gebot ist vor allem strikte Hygiene. Was das heißt, wirst du hier lernen."
Das Bett, in das Emma nun gehoben wurde, erschien ihr riesig. So ein verstellbares Teil mit Rollen an den Füßen war ihr neu, aber es erschien ihr außerordentlich praktisch.
Eine Schwester verstaute Emmas wenige Habseligkeiten im metallenen Beistelltisch und in einem Spind eines größeren Schrankes neben der Tür. In einer Ecke neben dem Schrank befand sich ein Waschtisch. Nummerierte Haken an der Wand wiesen dem Handtuch jedes Patienten seinen Platz.
Alles strahlte eine klare Ordnung aus und in Emma erwachte zaghaft etwas Vertrauen in diese ihr fremde Welt.
"Schwester Clara, bitte kümmern Sie sich um Emma. Ich habe jetzt mit ihrer Mutter noch die Formalitäten zu regeln. Sie finden uns im Arztzimmer. Emma, deine Mutter kommt nachher bei dir vorbei."
Damit verließ der Arzt den Saal und bat Emmas Mutter in das Arztzimmer.
"Ich brauche von Ihnen noch ein paar Angaben für die Patientenakte, Geburtsdatum von Emma, Sozialversicherung Ihres Mannes undsoweiter."
Die Mutter gab ihm die gewünschten Informationen.
"Und wie lange muss Emma hier bei Ihnen bleiben?"
"Das lässt sich nur schwer voraussagen. Wir wissen, dass die Krankheit nach ihrem Ausbruch allein bis zu ungefähr sechs Wochen hochansteckend ist. Das heißt, dass jeder direkte Kontakt mit den Kranken zu vermeiden ist. Deshalb trägt das mit ihnen befasste Personal grundsätzlich Schutzkittel und Handschuhe. Danach muss man sehen. Die Patienten bekommen Schmerzmittel. Feuchtwarme Packungen wirken ganz gut gegen die Verkrampfungen in den Oberschenkeln. Man macht Bewegungsübungen, um die Gelenke geschmeidig zu halten. Auch sanfte Massagen sind gut. Trotzdem lässt sich nicht sagen, ob und wann Emma ihre Beine vielleicht wieder bewegen kann. Wegen der Gefahr akuter Atembeschwerden lagern wir den Oberkörper hoch."
Der Arzt dachte dabei mit Grausen an die Möglichkeit, dass die Lähmung die Brustmuskulatur erfassen könnte, denn dann war keine Rettung mehr möglich. An einem Gerät zur künstlichen Beatmung wurde zwar geforscht. Es sollte aber noch eine ganze Reihe von Jahren ins Land gehen, ehe die erste Eiserne Lunge in solchen Fällen Leben retten konnte.
"Sie oder Ihr Mann können Emma an den Wochenenden besuchen. Wir wissen zwar, dass Polio nur Kinder befällt, aber auch Sie müssen sich dann Schutzkleidung geben lassen, vor allem, damit Sie die Krankheit nicht hier heraustragen und womöglich Ihre anderen Kinder anstecken. Sofern die sich nicht schon angesteckt haben. Sie müssen sie in den nächsten Wochen genau beobachten. Bei einer Erkältung mit Fieber kommen Sie bitte sofort zu mir. So, und jetzt können Sie noch eine Weile zu Emma. Machen Sie ihr Mut."
Die Mutter dankte dem Arzt mit einem Kopfnicken und ging zum Krankensaal, in dem Emma lag. Dort traf sie auf Schwester Clara, die bereits Schutzkleidung für sie bereit hielt. Sie streifte diese über und trat zu Emma. Diese trug inzwischen ein blütenweißes, gestärktes Krankenhausnachthemd und hatte frische Packungen um die Beine bekommen.
"Na, wie geht es jetzt?"
"Dieses Nachthemd kratzt."
Emmas Stimme war kaum mehr als ein leises Piepsen. Ihre Mutter schaute zu den anderen kleinen Patientinnen. Fröhlich sah keine von ihnen aus. Es waren blasse, kleine Gesichter, die in den großen weißen Betten fast verschwanden.
Mut sollte sie Emma machen. Mut, den sie selbst kaum aufbringen konnte. Sie nahm Emmas Hand, strich ihr über die Stirn und half ihr, ab und zu einen Schluck Tee zu trinken. Als Hebamme wusste sie einiges über Krankheiten, über Pflege und Hygiene. Sie sah ihr Zuhause vor sich. Ein Plumpsklo im Stall und eine Wasserpumpe im Hof, die von ihrer ganzen Familie benutzt wurden. Keine guten Voraussetzungen, um Ansteckungswege zu unterbrechen. In den Familien der anderen Mädchen würde es kaum anders aussehen.
Diese unheimliche und heimtückische Krankheit würde ihr Leben gewaltig verändern. Emma würde vorläufig nicht einmal die einfachsten Alltagsverrichtungen allein bewältigen können. Der banale Alltag. Normalerweise tat man, was nötig war, ohne großartig darüber nachzudenken. Hier nun waren andere Möglichkeiten zu suchen, neue Lösungen zu finden. Ihre Phantasie wollte ihr im Moment noch nicht dahin folgen. Sie wandte sich wieder ihrer Tochter zu.
"Sonntags ist Besuchszeit. Papa oder ich werden versuchen zu kommen."
Zögernd verabschiedeten sich Mutter und Tochter voneinander. Und dann war Emma allein in dieser neuen Welt.
Sie schluckte die aufkommenden Tränen tapfer hinunter und schaute sich in dem Krankenzimmer um. Die anderen fünf Mädchen schienen etwa im selben Alter zu sein wie sie.
Durch ein großes Bogenfenster fiel strahlendes Sonnenlicht auf ihre Krankenlager und die Sprossen der Fensterflügel zeichneten schräge Schatten in den Raum. Unwirklich verrückt schienen ihr die Gegenstände. Unbewusst schüttelte sie den Kopf. Nein, sie gehörte nicht hierher.
Das Mädchen im Bett rechts neben ihr schaute sie aus klaren blauen Augen ruhig an.
"Ich heiße Irene. Und du?"
"Emma".
"Die ersten Tage hier sind immer schwer. Aber dann gewöhnst du dich dran. Glaub mir. Ich bin jetzt seit über drei Wochen hier, ich muss es wissen."
Und dabei versuchte sie ein Lächeln, das doch mehr ein Grinsen blieb. Emma grinste zurück. Ein klein wenig erleichtert, denn es gab andere, die ihr Schicksal teilten. Sie fühlte sich nicht mehr ganz so allein.
In den nächsten Tagen lernte Emma auch die anderen Mädchen kennen, Luci und Wilhelmine, Cordula und Marie. Sie alle mussten strikt das Bett hüten.
Im Morgengrauen, so um 5.00 Uhr herum, wurden sie geweckt und gewaschen. Die Prozedur mit der Bettpfanne war für sie alle am unangenehmsten und für die Pflegerinnen aufwändig und lästig. Jedes Mal, wenn eine von ihnen ihre großen und kleinen Geschäfte erledigt hatte, bekam sie noch eine Waschschüssel mit frischem Wasser samt Seife und Handtuch zwecks Händewaschen gereicht. Schwester Clara hatte ihnen erklärt, dass dies die wichtigste Maßnahme zur Vermeidung einer Ansteckung sei.
Nachdem alle ihre lahmen Beine in frischen warmen Umschlägen steckten, kam das Frühstück, jede Menge Kräutertee und gekochter Haferbrei. Emma hasste dieses schleimige Zeug, Marmeladenbrot gab es jedoch nur sonntags.
Schwester Clara kam eine Weile nach dem Frühstück und brachte etwas Abwechslung in ihren streng geregelten Ablauf. Jede von ihnen befand sich in einem anderen Stadium der Krankheit. Irene konnte ihre Zehen schon wieder bewegen und manchmal auch die Knie beugen. Ihr fehlte vor allem noch die Kraft, um wieder aufzustehen. Luci konnte die Beine schon wieder ein wenig anheben.
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