1 ...6 7 8 10 11 12 ...32 Emma war noch ganz am Anfang. Im Moment spürte sie vor allem intensiv den Schmerz, trotz der warmen Umschläge. Die Muskeln der Oberschenkel krampften bei jedem Versuch der Pflegerin, Emmas Beine anzuwinkeln und wieder zu strecken. Sie tat dies ganz langsam und behutsam und konnte doch nicht verhindern, dass Emma leise stöhnte und ihr die Tränen in die Augen traten.
Sie alle wussten, dass es lange dauern würde, bis eine spürbare Besserung eintreten würde. Sie alle waren gewohnt, sich viel zu bewegen, draußen herumzuspringen, zur Schule zu gehen oder kleine Besorgungen zu erledigen. Diese Krankheit, das wussten sie, war sehr ernst. Es ging ihnen richtig schlecht. Aber sie langweilten sich auch in ihren blütenweißen Riesenbetten.
So ging es Emma jedenfalls, die mit Wehmut an die nun zügig reifenden geliebten Erdbeeren im heimischen Garten dachte. Während sie noch von deren roten Bäckchen träumte, schlief sie allerdings schon wieder ein. Als sie wieder erwachte und sich verwundert die Augen rieb, war es fast Mittag.
"Hei, du Schlafmütze! Wieder da?"
Irene grinste sie breit an.
Emma rang sich ein Lächeln ab.
"Ich hab von zu Hause geträumt. Unser Garten..."
"Oh je, den wirst du lange nicht sehen."
Und dann weiter mit verstellter, tiefer Stimme:
"Mach dir nichts draus! Alles nicht so schlimm! Der nächste Sommer kommt bestimmt!"
Ein fröhlicher Kasper schaute Emma an. Er tanzte auf Irenes Hand, die ihn irgendwo aus den Tiefen ihres Nachtschränkchens hervorgezaubert hatte, ihn unter gewollt übertriebener Anstrengung über ihren Bauch krabbeln ließ, um ihn nun triumphierend hoch zu halten.
Emma staunte diesen bunten Gesellen an, mit seiner Riesennase und dem Harlekinkostüm, bestehend aus knallrotem Beinkleid, einem in allen Farben des Regenbogens leuchtenden Oberteil mit knallroter Krawattenschleife, sowie einer blauen Zipfelmütze mit einer unüberhörbaren, hell klingenden Glocke an deren Ende.
"Wo hast du den denn her? Bei uns gibt es sowas höchstens auf dem Jahrmarkt oder Schützenfest zu sehen."
Irene lachte.
"Manchmal hat es auch Vorteile, wenn die eigenen Eltern Lehrer sind. Der hier ist selbst gemacht. So wie die hier auch."
Und damit stellte Irene ihr noch das Gretel vor, den Teufel, ein Krokodil und - so eine Kasperlfigur hatte sie noch nie gesehen - einen Storch mit langen roten Beinen, ebensolchem langen Schnabel und tatsächlich mit weißen und schwarzen Federn am Leib.
"Sind die schön!"
Andächtig und sehnsüchtig schaute Emma auf diese wunderschönen Handpuppen.
"Aber wie macht man die?"
"Och, das ist eigentlich ganz einfach. Nur eine ziemliche Schweinerei. Man weicht einen Packen altes Papier, Zeitungen oder so, in richtig dickem Kleister ein. Dann fischt man sich eine Handvoll da raus und knetet und formt den Kopf so, wie man ihn haben will."
Dabei vollführte Irene mit angestrengtem Gesicht entsprechende Gesten mit ihren Händen und brachte Emma zum Lachen.
"Der Hals bekommt von unten ein Loch, groß genug, dass man ihn auf einen Finger oder einen Stock stecken kann und einen unten etwas nach außen gewölbten Rand, damit man das Kostüm daran befestigen kann. Die Köpfe müssen auf einem Stock trocknen. Das dauert eine ganze Weile. Inzwischen kann man die Kostüme nähen. Dann werden die Köpfe angemalt und die Kostüme angebracht. Fertig."
Diesmal nickte das naseweise Gretel herüber.
Emma war begeistert.
"Das klingt toll. Und man kann fast alles irgendwie aus Resten machen. Das muss ich unbedingt auch mal probieren."
"Immer langsam mit den jungen Pferden!"
Lachend trat Schwester Clara zu ihnen, die inzwischen leise den Krankensaal betreten hatte.
"Meine Damen", und dabei klatschte sie energisch in die Hände, "gleich kommt Ihr Mittagessen. Danach wird eine Stunde geruht. Und dann können die Puppen wieder tanzen."
Sie zwinkerte Emma und Irene fröhlich zu und wandte sich dann den Betten zu, um jede der kleinen Patientinnen noch einmal zu begutachten und sich zu vergewissern, wer von ihnen selbständig essen konnte und wer vielleicht Hilfe benötigte.
Dann ging auch schon die Tür auf und eine weitere Schwester steckte den Kopf herein.
"Mittagessen! Heute gibt es einen leichten Gemüseeintopf."
Die an den Nachtschränken angebrachten Tabletts wurden ausgefahren und die großen Suppenteller samt Löffel darauf abgestellt. Zum Glück konnten sie fast alle allein essen. Nur die vierjährige Luci brauchte Schwester Claras Hilfe, sonst würde zu viel ihrer Mahlzeit in ihrer Kleidung oder im Bett landen.
Der Eintopf mit verschiedenen frischen Gemüsesorten in einer kräftigen Brühe schmeckte gar nicht übel. Und Emma erschien das leise rhythmische Geklapper der Löffel als passende Begleitmusik.
Während ihr nach dem Essen neue Umschläge angelegt wurden, waren die Augenlider bereits schwer und Sekunden später war Emma erneut fest eingeschlafen.
Die Tage und Wochen im Hospital vergingen. Sie waren durchwachsen. Eines jedoch wusste Emma genau. Ohne Irene und ihre Handpuppen hätte sie sich trotz all der Verrichtungen, Waschen, Essen, ärztlichen Untersuchungen und Therapie-maßnahmen, hier zu Tode gelangweilt. Sie alle freuten sich auf die Sonntage, wenn Besuchstag war. Emmas Vater war an ihrem ersten Besuchswochenende tatsächlich zu ihr gekommen. Ganz verlegen stand er plötzlich, angetan mit der vorgeschriebenen Schutzkleidung, am frühen Nachmittag in der Tür. Er musste zweimal in die Runde gucken, ehe er Emma endlich entdeckt hatte. Irgendwie sahen die Mädchen in ihren Krankenhausnachthemden in den riesigen Krankenhausbetten alle gleich aus. Auch Emma stutzte zuerst, als sie ihn sah. Dann erkannte sie aber doch seinen Schnurrbart und seine blitzenden kleinen Augen unter den kräftigen Brauen. Und ganz und gar unverkennbar trug er ihr Weidenkörbchen, mit dem sie immer Früchte sammeln ging.
Sie winkte ihn zu sich und deutete auf den Stuhl am Fußende des Bettes. Der Vater zog ihn im Vorbeigehen an die Bettseite, setzte sich langsam und vorsichtig darauf und reichte ihr das Körbchen. Erdbeeren! Die größten und reifsten Früchte, die ihre Stauden zu bieten hatten. Offenbar waren sie erst vor kurzem gewaschen worden, denn sie lagen auf einem Leintuch, das Spuren von Feuchtigkeit zeigte und das Emblem des Krankenhauses trug.
"Oh, Papa, danke, ich freue mich so. Ich hab schon gedacht, von denen kriege ich dieses Jahr gar nichts ab!"
Da musste ihr Vater lachen und entspannte sich endlich etwas. Er wies mit der Hand in die Runde.
"Das ist ganz schön ungewohnt. Mutter hat zwar schon etwas erzählt. Aber richtig vorstellen konnte ich mir das nicht. Wann kommt unsereiner schon ins Krankenhaus? Wir alle hoffen nur, dass du bald wieder gesund wirst. Ich soll dich von allen schön grüßen. Sogar dein Lehrer wünscht gute Besserung. Ich hab ihn vorhin zufällig am Bahnhof getroffen. Er wollte wohl einen Ausflug in die Stadt machen. Naja, er hat noch keine Familie."
Es folgten einige Neuigkeiten von ihrer Verwandtschaft, die Emma bald wieder vergaß. Nur an die Geschichte von Willi erinnerte sie sich, der gerade seine ersten Milchzähne verlor und die kleine Thea dauernd mit seinen schrecklich grauslichen Zahnlücken erschreckte. Thea war noch so klein, dass sie jedes Mal wieder darauf hereinfiel und manchmal in Weinen ausbrach. Emma konnte sich lebhaft vorstellen, wie dann ihre Mutter Willi eine Ohrfeige verpasste oder mit dem Reisigbesen hinter ihm her jagte. Vergeblich natürlich. Willi war viel schneller. Er hatte ja auch Hosen an, die beim Laufen nicht behinderten.
Die Frauen trugen knöchellange, die Mädchen mindestens wadenlange Kleider und Röcke, die üppig in Falten gelegt viel Stoff bargen, dazu natürlich Unterröcke und so weiter. Kein Wunder, dass Emma sich öfter hässliche Dreiangel in den Stoff gerissen hatte, wenn sie einem dornenbewehrten Strauch zu nahe gekommen war. Sie beneidete die Jungs glühend um diese praktischen Hosen und hätte sich gern genauso ungezwungen bewegt wie sie.
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