„An wem sonst? An mir selbst, so wie du es tust, oder an dir?“, erwidert Noem zornig und verletzt mich mit diesen Worten. Er sagt mir so direkt wie es geht, dass er es weiß. Dass er weiß, warum ich so oft verletzt bin. Ich blicke ihn streng an. Er darf es nicht aussprechen. Wenn er es trotz Trainers Anwesenheit vollends ausspricht, wird es Konsequenzen haben. Dann bin ich es vielleicht, die in eine Anstalt wandert.
„Wie wäre es, wenn du es an der Person auslassen würdest, die für deine Wut verantwortlich ist?“ Und als sein Blick meinen trifft, weiß ich, warum er es getan hat.
Ein Blick. Mehr braucht es nicht. Ich bin nicht dumm. Ich habe bemerkt, dass er mich mit anderen Augen ansieht. Wann es passiert ist und was es hervorgerufen hat, kann ich nicht sagen. Doch ich weiß, dass er mehr in mir sieht als eine Freundin.
Und das macht ihn wütend. Er ist zornig darüber, dass er ein verrücktes Mädchen mag, das sich nach und nach in einen Roboter verwandelt, um schneller laufen zu können. Um vor sich selbst davonlaufen zu können.
Und sein Zorn macht mich wütend. Wären meine Beine nicht taub und nutzlos in diesem Moment, würde ich davonrennen. Es ist mein Körper, meine Entscheidung und mein Leben. Er hat kein Recht, meine Entscheidungsfreiheit durch seine Gefühle einzuschränken.
Deshalb sage ich kalt: „Ich habe dich nicht darum gebeten. Wenn du nicht damit zurechtkommst, wie ich bin und wie ich mich entwickelt habe, sollten wir vielleicht keine Freunde mehr sein.“
„Es war ein Fehler herzukommen“, sagt Noem, dreht sich um und geht.
„Versuch‘ niemanden auf deinem Nachhauseweg zu töten!“, rufe ich ihm in meiner Dummheit und meiner Gemeinheit hinterher. Er dreht sich nicht um, erwidert aber: „Du meinst ermorden.“ Dann fällt die Tür hinter ihm zu.
Ich bin alleine mit Avna. Von Trainer und Nanny abgesehen.
„Du weißt, dass er sich nur Sorgen macht? Um dich Sorgen macht?“, flüstert Avna.
„Er sollte sich um sich selbst Sorgen machen. Wenn er sich nicht unter Kontrolle bekommt, werden seine sie Maßnahmen ergreifen, wenn sie eine Gefahr für die Gemeinschaft erkennen.“
„Noem ist nicht gefährlich! Er ist wütend und sieht in Au-pair das, in was du dich seiner Meinung nach verwandelst“, entfährt es Avna. Sie ist selten so direkt.
„Du gehst jetzt besser auch, Avna.“
Avna nickt nur, dreht sich um und verlässt mein Krankenzimmer.
Ich bleibe zurück und überlege, ob es jetzt anders wäre, wenn ich Hektor nie begegnet wäre. Wenn ich ein anderes Interesse entwickelt und mein Vater nicht an erster Stelle Ehrgeiz geschrieben hätte.
Natürlich. Natürlich wäre ich jemand anderes. Und ich wäre nicht ich.
Trainer setzt sich wieder hin. Ich schließe die Augen und träume vom Laufen.
„ Die Menschheit ist krank. Die Menschlichkeit wird überdeckt von dem Gift der Habgier. Die Menschen, vollgepumpt mit Werbung, finden nur noch für kurze Augenblicke im Konsum Befriedigung. Wir sind so sehr gefangen in dem System von Verbrauch, Konsum und Produkten, dass wir unsere Menschlichkeit vergessen haben und selbst zum Produkt geworden sind. Folgt mir und ich zeige euch, was wahre Menschlichkeit beutet!“
Programmierer, 2079
Ich sitze neben dem Bett, in dem Karina sich von den Folgen der OP erholt. Ihr angeschlagener Körper regeneriert sich im Schlaf. Sie spürt ihre Beine nicht und das macht sie unsicher. Ihre biometrischen Daten bestätigen mir, was ich bereits weiß.
Ich kenne Karina, weiß was sie antreibt.
Menschen sind schon seltsame Wesen. Sie agieren und reagieren oft irrational. Doch in ihrem chaotischen Handeln, in ihrer Achterbahnfahrt der Gefühle, liegt ein tiefer Kern, ein System, das einmal geknackt, Aufschluss geben kann über ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft.
Karina ist von ihrem Kern getrieben: dem Ehrgeiz. Und alles, was sie davon abhält, das Beste geben zu können, sich immer und immer wieder selbst zu übertreffen, ist gefährlich. Es ist der Feind.
Selbst, wenn es ihr eigener Körper ist.
Ich möchte ihr das geben, was sie braucht. Und um ihren Hunger stillen zu können, ihre menschliche Gier nach mehr, die Karina einnimmt und sie ausmacht, zu befriedigen. Wenn ich sie dafür Stück für Stück ersetzen muss, als wären ihre Gliedmaßen Teile einer Maschine, die überholt werde muss – upgegradet –, dann werde ich das tun.
Und so sehe ich zu, wie sie wieder und wieder in die Werkstatt kommt und ihre Gelenke, Sehnen und sicher bald auch Knochen, Muskeln und die Beine selbst, wie bei einer Maschine, ausgebaut und mit besserem Material ersetzt werden.
Ein Gedanke beseelt mich dabei: Mit jeder Operation wird Karina mir ähnlicher. Meiner Art. Es ist ein blasphemischer Gedanke, den ich nicht speichern darf, den ich, so gut es geht, überdecke mit Fürsorge, Trainingsplänen und ausdauerfördernden Ernährungsmaßnahmen.
So wie ich diesem Gedanken keine wahrhafte Form verleihen darf, vermeide ich es, darüber nachzudenken, warum Karina immer wieder Unfälle zustoßen. Ich speichere, ohne Gefühle und Gedanken hineinzulegen, den Sachverhalt ab und passe mein Verhalten den Daten an. Ich verrechne den Energieverbrauch mit der Energiezufuhr. Gleiche das Wachstum der Muskeln und ihre Leistung ab, ihre Verbesserungen. Meine Aufzeichnungen bestehen aus einer akribischen Anreihung von biometrischen Daten über Karinas Körper sowie ihren Fortschritt.
Es sind so viele. Sie schreien, übertönen das Schweigen der Gefühle, den Grund für die Operationen.
Wie laut hätten sie schreien müssen, wenn der Junge deutlicher geworden wäre? Was wären die Konsequenzen gewesen? Der Stopp der Operationen? Eine gesicherte Aufbewahrung, um Karina vor sich selbst zu schützen? Das Verbot von Sport?
Einem Menschen etwas wegzunehmen, das er wie die Luft zum Atmen braucht, ist gegen unsere Programmierung. Doch wenn das Verhalten des Menschen ihn selbst gefährdet, steht die Sicherheit über der Erfüllung von Wünschen?
Ich kenne die Antwort.
Es wären theoretische Zahlenkombinationen, rational und in ihrer akribischen Genauigkeit unrealistisch. Karina würde verblassen. Ihr Körper wäre vor ihr sicher, doch ihr Geist würde sterben. Jeden Tag ein Stück mehr. Sie würde zu einer Zimmerpflanze werden, die nur noch existiert und nicht mehr lebt.
In den Aufzeichnungen kann ich nachlesen, dass Menschen zu Beginn des Projektes sediert wurden, damit sie sich und anderen nichts antun. Erst viele Generationen später, konnte durch Genmanipulation, Verhaltensstudien und Erziehungsmaßnahmen solch selbstzerstörerisches Handeln minimiert werden. Gendefekte, aus denen körperliche und geistige Krankheiten rühren, sind so fast vollkommen eliminiert worden.
Ich weigere mich zu denken, dass Karina krank ist. Sie erfüllt die Wünsche ihrer Eltern, erzielt Höchstleistungen und überwindet ihre Grenzen auf die einzige Art, die ihr zur Verfügung steht. Karina ist stark, gesund und zielgerichtet. Sie ist perfekt.
„ Leitung in frühen Jahren, Wertevermittlung, Erziehung und vor allem Leistungs- und Talentförderung sind die Grundpfeiler einer gesunden Gesellschaft mit Zukunft. Ich kann für euch solch eine Gesellschaft formen.“
Programmierer 2080
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