Als sie an einem kleinen Hafen an der Küste angelangten, nahm ihr der Anblick schier den Atem. Vor ihnen lag das tiefblaue Meer, das Mittelmeer! Sie schnappte nach Luft. Viele Fotos hatte sie schon gesehen und auch im Urlaub mit ihren Eltern waren sie schon ans Meer gefahren. Doch dieser Anblick übertraf ihre Vorstellungen bei Weitem. Glatt und schillernd lag die Méditerranée im Morgenlicht. Einladend, unvorstellbar schön und elegant. Kein Foto, kein Bild konnte ausdrücken, was Lia gerade empfand. Zum Weinen schön! Sie schluckte, und in diesem Moment wusste sie mit Sicherheit, dass sie ihre Entscheidung, was immer für Konsequenzen sie mit sich bringen würde, nicht bereuen würde.
Kleine Boote lagen leicht wogend auf dem flachen glitzernden Wasser, und die Masten klimperten im Wind, auf denen Möwen saßen und sich ihr Gefieder putzten, während die Skipper die Boote startklar machten. Andere hingegen saßen gemütlich auf dem Deck und frühstückten.
„Das ist le Mourillon “, erklärte Flynn, „einer der beliebtesten Stadtteile Toulons.“
Sie fuhren den Hang der Bucht hoch, vorbei an kleinen Geschäften, die gerade erst zu öffnen schienen und Strandbedarf und Postkarten anboten. Dann ließen sie den wunderschönen Anblick des in der Morgensonne glitzernden Meeres hinter sich und fuhren an Luxusvillen und kleinen Dörfern vorbei, auf einer Straße, die sich am Litoral entlang schlängelte. Sie gewannen an Tempo und der Fahrtwind fuhr durch ihr Haar, das noch immer fest in einem Dutt zusammengehalten war. Vereinzelte Strähnen lösten sich und kitzelten ihre Wangen. Es roch blumig und fruchtig nach Frühling. Kristalline Hänge und Täler waren mit Kiefern bewachsen, hier und da standen Zypressen und Agaven, und der Boden war mit Pflanzen übersät, die wie kuschelige Teppiche wirkten und deren vielzählige Blüten im Morgenlicht wie weiße und lila Diamanten schimmerten. Andere Sträucher blühten im grellen Gelb.
Ich bin an der Côte d’Azur, dachte Lia. Für einen kurzen Augenblick vergaß sie ihre Hemmungen, legte den Kopf zurück, schloss die Augen und genoss den Gedanken, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. Sie war im Land ihrer Träume. Bislang wurden ihre Erwartungen keinesfalls enttäuscht. Im Gegenteil! Saß sie nicht gerade in einem Traumauto neben einem, wie sie zugeben musste, sehr gut aussehenden Mann? Als sie die Augen wieder öffnete, wagte sie einen Blick zu Flynn, der sich weiterhin auf die kurvige Straße konzentrierte und ihr nur ein flüchtiges Lächeln zuwarf.
Ja, jetzt würde sie fünf Monate an der berühmten Côte d’Azur verbringen, noch dazu mit einem so gutaussehenden und coolen Chef. Alles schien schön in diesem Land. Die Sonne, die Palmen, die Wärme, das Meer, der Himmel, die kleinen verträumten Häuser mit ihren in Lila-, Gelb- und Rottönen blühenden Hecken ...
Heftiges Herzklopfen überkam sie und ihre innere Aufregung stieg an.
Als sie erneut einen Ort, der sich Carqueranne nannte, durchfuhren, hielt Flynn den Wagen nahe bei einem Markt an und stellte ihn mitten auf der Straße ab.
„Kommen Sie, Lia, ich muss noch etwas besorgen“, sagte er und stieg aus. Etwas überrumpelt löste Lia ihren Sicherheitsgurt und erhob sich ebenfalls aus dem Sitz.
„Wollen Sie den Wagen einfach hier stehen lassen?“
„Oh, das? Das machen hier alle so. Aber Sie können auch auf mich warten, wenn Ihnen das lieber ist. Ich brauche nicht lange.“
„Und das Gepäck?“
„Das ist sicher im Kofferraum eingeschlossen“, sagte er und rüttelte wie zur Bestätigung an der Haube.
Schon war Flynn im Gewühl der Menschen verschwunden. Lia seufzte und blickte sich um. Tatsächlich war es nicht das einzige Auto, das so unglücklich in der Doppelreihe geparkt war. Kein Mensch schien sich daran zu stören.
Sie überlegte, schaute sich weiter um. Auf dem Markt herrschte ein buntes Treiben. Neben Blumen, Gemüse und Spezialitäten wurden auch Teppiche, Hüte und Schuhe angeboten. Marktschreier priesen ihre Waren an, doch Lia verstand kein Wort. Plötzlich fiel ihr Augenmerk auf einen Marktstand, an dem Sommerklamotten angeboten wurden. Schnurstracks schritt sie auf die Bude zu. Ein schwarzes Wickelkleid mit weißen großen Blumenmustern, das mit anderen Kleidern an einer Stange am riesigen Überschirm hing, fiel ihr besonders ins Auge. Eine Dame Mitte Fünfzig, die ein rotgemustertes Tuch um den Kopf gebunden trug, näherte sich Lia.
„Très belle robe pour très belle femme“, sagte die Frau, nickte ihr zu, holte das Kleid sofort mithilfe einer Stange und einer geschickt eingeübten Geste herunter und reichte es Lia. Selbst trug die Verkäuferin ein langes buntes Kleid aus Seide oder Satin, dessen vorwiegend rote Muster gut zu dem Kopftuch passten. Ihre langen schwarzen Haare waren mit grauen Strähnen durchzogen und ihre schwarz umrandeten Augen funkelten Lia fröhlich an. Die Frau erinnerte sie an eine Zigeunerin aus den Comics „Tim und Struppi“, Geschichten, die Lia als Kind gerne gelesen hatte.
„Oh, merci“, sagte Lia, auch wenn sie nicht wirklich ganz verstanden hatte, was die Frau von ihr wollte. „Belle femme“, das hieß wohl „schöne Frau“, soviel wusste sie noch. Ob die Verkäuferin sie damit gemeint hatte? War die Frau blind?
„Vous ne parlez pas français?“
Lia schüttelte den Kopf, wollte etwas sagen, doch die Frau kam ihr zuvor.
„Espagnol? Spanish?“
„Non,...äh ... allemand!“
„Ahhh“, sagte die Frau, „Deutsch.“
Lia nickte.
„Schöne Kleid für schönes Frau“, sagte die Verkäuferin im schlechten Deutsch und mit einem harten Akzent, der nicht dem französischen ähnelte.
„Oh, Sie sprechen Deutsch?“
„Ein bichsen, ein bichsen.“
Lia schmunzelte. Die Frau musste so auf Touristen getrimmt sein, dass sie das Nötigste in mehreren Sprachen beherrschte, um ihre Ware anzupreisen. Also gut, dachte Lia, legte das Kleid an und schaute prüfend an sich hinunter.
„Da, Spiegel“, sagte die Frau und Lia folgte ihr in den hinteren Teil des Standes, musterte sich mit dem vorgehaltenen Kleid in dem Standspiegel und spürte, dass sie rot anlief. Würde sie so ein Kleid jemals tragen, fragte sie sich. Viel zu ... viel zu ... naja, viel zu wenig, dachte sie. Tief klaffte der Ausschnitt, den sie mit Sicherheit nicht zu füllen wissen würde, und die Länge - wenn man das so nennen konnte - ging nur bis zur Mitte der Oberschenkel. Obendrein war das Wickelkleid vorne überschlagen und geschlitzt und würde bei jedem Schritt ihre Beine freilegen. Sie schluckte.
„Kleid geschaffen für dich“, sagte die Verkäuferin, die ihr Handwerk wirklich zu verstehen schien. Lia zögerte.
„Wie viel?“
„Dreißig“, kam die Antwort prompt.
„Gut, prima. Es ist wirklich sehr schön“, sagte Lia und hielt der Frau das Kleid hin, „aber ich komme nächste Woche wieder, einverstanden?“ Sie wollte keine dreißig Euro für ein Kleid ausgeben, das sie vielleicht nie tragen würde.
„Dann weg! Zwanzig!“
„Ich möchte erst noch nachdenken, ich -“
„Fünfzehn, letztes Angebot!“
Lia ließ resigniert die Arme hängen, seufzte und gab sich geschlagen. Ach und überhaupt: War sie nicht hierher gekommen, um etwas an ihrem Leben zu verändern? Um Dinge zu tun, die sie noch nie getan hatte?
„Also gut“, sagte sie und kramte ihr Portemonnaie hervor, gab der Frau einen Zwanziger. Diese wickelte das Kleid in eine Tüte, gab ihr einen Fünfeuroschein zurück, den Lia sofort im Etui verschwinden ließ.
„Danke, Mademoiselle, danke“, sagte die Verkäuferin, zwinkerte Lia zu, reichte ihr die Tüte mit dem Kleid und tätschelte ihre Hand. Plötzlich hielt die Frau inne, drehte Lias Hand um und legte sie in die ihre. Behutsam strich sie über Lias Handfläche und runzelte die Stirn.
Читать дальше