"Vielen Dank." Der Wirt macht sich auf den Weg zur Küche.
Schweigend sehen sie sich an. "Du hast mir gefehlt", sagt Miriam nach einer Weile.
Schwierig, jetzt zu lügen. "Du hast mir auch gefehlt." Es kommt ohne Anstrengung über seine Lippen. Also bin ich ein gewissenloser Lügner? Er spürt seinen Gedanken nach, seinen Gefühlen, seinen Erinnerungen. Nein, das ist es nicht. Es war keine Lüge. Sie hat mir gefehlt, trotz Sira.
Sie versinken in Schweigen. Enzo Milano bringt die Getränke, geht wieder.
"Frau Geist findet den neuen Firmennamen protzig."
"Für welche Variante hast du dich nun entschieden?"
"Die lange."
Miriam blickt ins Leere. "Jokim Valerian Kostrow und Partner."
"Ist das wirklich zu protzig?"
"Es ist ganz in Ordnung."
"Aber es wäre nicht deine Wahl."
"Ich denke, das kannst du besser beurteilen."
"Also gefällt es dir nicht."
"Der Name muss dir gefallen, nicht mir. Außerdem würde ich die Verantwortung nicht übernehmen wollen."
"Verantwortung?"
"Wenn mein Vorschlag sich als schlechte Wahl herausstellt, möchte ich nicht hören, dass ich schuld am Ruin der Firma bin."
Nun ist es seine Hand, die sanft über ihre Wange streicht. "Kätzchen, mach dir keinen Kopf. Es ist ganz allein meine Entscheidung."
"Dann ist es ja gut."
Die Nudeln kommen. Kostrow macht sich hungrig darüber her. Er spießt zwei Nudeln und eine Muschel auf, hält sie Miriam entgegen. "Mal probieren?"
Sie schüttelt schweigend den Kopf. "Wie ist eigentlich Stephans Meinung dazu?"
"Dem Namen?", sagt Kostrow zwischen zwei Bissen. "Keine Ahnung, ich habe ihn noch nicht gesprochen heute."
"Dein geheimnisvoller Geschäftspartner. Wann lerne ich ihn endlich einmal kennen?"
"Der ist überhaupt nicht geheimnisvoll. Ein typischer stiller Teilhaber, der im allgemeinen Geschäftsbetrieb nicht auftaucht."
"Merkwürdig."
"Eigentlich nicht. Er meint, dass sich die Beteiligung an einer Detektei nicht gut mit seinem Hauptgeschäft kombinieren lässt."
"Und findest du das auch?"
"Kann ich nicht beurteilen. Ich habe ja keine Vermögensverwaltung."
Nachdenklich nimmt Miriam einen Schluck aus ihrem Glas. "Was ist so schlimm daran, an einer Detektei beteiligt zu sein?"
"Stephan sagt, es könnte die Vertrauensbasis zwischen der Firma und den Kunden beschädigen. Viele würden sich nicht wohl fühlen, wenn sie wüssten, dass das Unternehmen, dem sie Teile ihres Vermögens anvertrauen, auch Nachforschungen betreibt. Vertraulichkeit ist ein grundsätzliches Element der Branche."
Miriam blickt nachdenklich auf das Koi-Aquarium. "Klingt plausibel."
"Stephan ist eine wirkliche Bereicherung. Er ist ein Wahnsinnsanalyst."
"Bist du selbst auch."
"Nicht wie Stephan. Das ist manchmal schon übersinnlich."
Miriam sieht ihn an, lächelt. "Na gut, Schatz. Ich bin manchmal einfach zu misstrauisch."
Kostrow denkt an ihr Telefongespräch am Vormittag. "Ja, Kätzchen, das bist du manchmal wirklich."
Phase 4 \\ 5. August – 15:28 Uhr
Die Jahre lasten auf dir, alle, vom ersten an. Die einsame Gestalt im Garten fühlt, wie die Zeit sich gegen ihn wendet. Willkommener Erfahrungsschatz für die erste Lebenshälfte, dann mehr und mehr Ballast, ein bleiernes Senklot, das den Rücken krümmt, den Blick zum Himmel vereitelt.
Wie so oft in den letzten Monaten steigt in Paolo Forcone das Bild des Vaters auf. Ein Bild, das schon fast vergessen war, über die Jahrzehnte verblasst, überlagert vom ekstatischen Farbrausch eines außergewöhnlichen Lebens. Ein Leben, das keine Grenzen kennt, alles möglich erscheinen lässt, übliche Regeln außer Kraft setzt. Ein Leben, das sich seinen Weg bahnt wie Lava durch brüchiges Gestein bis zur Eruption über weitem Land, und schließlich der Sturz von der Klippe, der Blitzschlag aus wolkenlosem Himmel.
Es ist immer dasselbe Bild, das Paolo Forcone erscheint, wie ein verblasstes, zerknittertes und eingerissenes Foto, das man jahrelang ahnungslos mit sich herumträgt, um es in einem unterwarteten Moment aus einer nie genutzten Tasche zu ziehen. Papa. Es ist nicht leicht, dein Sohn zu sein, selbst heute, Jahrzehnte nach deinem Tod. Gefühl ist Schwäche. Rücksichtnahme ist Schwäche. Liebe ist Schwäche.
Forcone betrachtet das Bild in seinem Inneren, den herrischen Mann, der starr aufgerichtet an derselben Stelle sitzt wie jetzt er, im Schatten von Il Nonno, dem Urbaum des 130 Jahre alten Olivengartens neben dem Familienanwesen.
Alles, was du jemals wolltest, war ein Nachfolger. Einen capobastone, dessen du dich nicht zu schämen brauchtest. Einen Mann, der dein Werk fortführt. Was du nicht wolltest, war ein Sohn.
Forcone lässt den Blick durch den Olivengarten schweifen. Die schräg einfallende Sonne des fortgeschrittenen Nachmittags zeichnet durch das feine Blattwerk der alten Bäume rätselhafte Muster auf den Rasen. Vier Generationen haben den Hain entwickelt, gepflegt, kultiviert, seine Früchte geerntet, sie zu edlem Olio Extra Verigine gepresst. Er war immer stolz auf das Öl gewesen, sein Treuegelübde an das Land seines Herzens, Kalabrien, Gottes Paradiesgarten.
Nicht so Gianna Lucia. Bis zum Tag ihres Todes hatte sie den Garten gehasst. Niemals hatte er sie dazu bewegen können, neben ihm auf der Rundbank um Il Nonno den Sonnenuntergang zu betrachten. Der Garten ist eine Lüge, Paolo. Das waren ihre Worte gewesen, immer und immer wieder. Öl kann Blut nicht abwaschen. Ein wehmütiger Schmerz legt sich auf seine Brust. Gianna Lucia, Ehefrau und Ratgeberin. Sie war sein Halt gewesen, seine Inspiration. Sie hatte ihm Dinge gesagt, die andere mit dem Leben hätten bezahlen müssen. Möge dir die Erde leicht sein, meine Sonne.
So deutlich wie schon lange nicht mehr empfindet er die Last seiner achtundsiebzig Jahre. Seit Emanueles Tod hat sich alles geändert. Die schier endlose Kraft, die er immer zuverlässig aus seinem Inneren hatte schöpfen können, ist versiegt. Alles, was übrig bleibt, ist Resignation, Trauer, Müdigkeit. Und, darüber schwebend, alles überschattend, der unbändige Wunsch nach Rache. Emanuele, sein einziger Sohn, dem er all die Liebe und Zuwendung geschenkt hatte, die ihm vom eigenen Vater versagt geblieben war. Emanuele, der alle Anzeichen eines überragenden capobastone in sich getragen hatte, überragender als er selbst es jemals gewesen war. Was soll nun werden? Wer soll die Familie führen, wenn Gott mich ruft?
Hinter der hohen, aus roh behauenem Kalkstein zusammengefügten Gartenmauer hört er einen Wagen ankommen. Eine Minute später betritt ein hoch gewachsener, schlanker junger Mann in einem hellbeigen Anzug und dunkelbraunem, offenen Seidenhemd den Garten. Er blickt kurz um sich, bemerkt Forcone auf der Rundbank, geht auf ihn zu. "Salve, zio."
"Buonasera, nipote."
Raphaele Campovallo blickt seinen Onkel prüfend an. "Fühlst du dich wohl?"
"Mit Gottes Hilfe, es ist alles in Ordnung."
Raphaele, dem der gebrochene Blick des Alten nicht entgeht, ist beunruhigt. "Bitte verzeihe mir, Onkel, aber ich habe nicht den Eindruck."
Forcone zwingt sich ein schmales Lächeln ab. "Haben wir nicht alle bessere und schlechtere Tage?"
Die Unruhe des Neffen vertieft sich. "Vielleicht sollte ich Dottore Pasini bitten, dich zu besuchen."
"Beruhige dich, Raphaele, du musst dich nicht ängstigen. Es waren nur einige dunkle Gedanken. Sie kommen und gehen."
"Bist du sicher?"
"Absolut."
Raphaele setzt sich neben seinen Onkel auf die Bank, blickt ihn von der Seite an. "Ich habe eben mit Frederico Pescaro telefoniert."
"Wie steht die Sache?"
"Alles läuft programmgemäß. Die logistische Planung ist so gut wie abgeschlossen. Die Beschaffung der Ausrüstung ist bereits angelaufen."
"Das sind gute Nachrichten."
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