Johann Wolfgang Goethe
Sturm und Drang 2.0:
Werthers Leiden
In heutige Sprache übertragen
von Emil Horowitz
Vollständige eBook-Ausgabe April 2019
Urbis eBook
Deutsche Erstveröffentlichung
© Copyright 2019 bei Emil Horowitz
Titelbild: Emil Horowitz
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Erschienen im Urbis-Verlag
All you need is love.
John Lennon
Rückblickend kann ich nicht mehr nachvollziehen, wie ich auf die Idee kam, Die Leiden des jungen Werthers in heutige Sprache zu übertragen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung kannte ich den Werther noch gar nicht, hatte ihn nie gelesen. Ich denke, es war wohl das lockende Versprechen der Literaturströmung Sturm und Drang, das mich unwiderstehlich anzog. Sturm und Drang – es klingt, als lägen darin Botschaften an unsere Zeit vorborgen.
Das kommt nicht von ungefähr. Die Kultur der Selbstdarbietung, wie wir sie seit dem Aufkommen der Netzkultur beobachten, hat eine berühmte Entsprechung in der Vergangenheit, eben in der aus der Aufklärung hervorgegangenen Strömung des Sturm und Drang mit ihrem Modell des Originalgenies.
Sturm und Drang birgt aus heutiger Sicht eine verblüffende Aktualität in sich. In der deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts wendete sich das Persönlichkeitsideal der jungen Generation gegen Autorität und Tradition und hin zur Betonung überbordender Emotionen, ein Gefühlsuniversum, in dem Tränen noch nicht für Schwäche und Verweichlichung standen.
Die jungen Wilden setzten auf die Selbständigkeit des Originalgenies, das sein Erleben und seine Erfahrungen in eine individuelle künstlerische Form brachte und mit den Regeln der traditionellen Poetik sehr frei umging. Nicht anders verfahren heute Blogger und YouTuber.
Die Literatur des Sturm und Drang hätte uns heute viel zu sagen – wenn es die Sprachbarriere nicht gäbe. Der heute gültige pädagogische Ansatz, jungen (und älteren) Menschen die Texte in alter, ungewohnter Sprache zu erschließen, entspricht nicht unbedingt der literarischen Intention des Dichters. Die Autoren des Sturm und Drang, von Friedrich Schiller über Gottfried August Bürger bis Johann Wolfgang Goethe bedienten sich der aktuellen Sprache ihrer Zeit, die ihre Leserschaft direkt in deren Gegenwart abholte. Von den Lesern heute zu verlangen, sich in patinierte, nicht mehr gebräuchliche Sprache einzufühlen, ist ein kontraproduktiver Gedanke, wenn es um die Vermittlung der Inhalte, der Geisteswelt und der Gefühle des Sturm und Drang geht.
Das also ist der grundlegende Ansatz, der mich zu dieser Bearbeitung veranlasst hat. Aber es gibt noch eine Ebene darüber – oder darunter. Während meiner Arbeit wurde mir klar, dass es der tragische Held selbst war, der mich anzog, sogar schon, als ich nur oberflächliche, lückenhafte Informationen über seine Welt und sein Schicksal hatte. Während des Schreibens erkannte ich, worum es mir wirklich ging: die erstaunliche, nein, erschreckende Erkenntnis darüber, wie viel Werther in mir ist. Werther, eine Kerze, die an beiden Enden brennt, doppelt so hell, halb so lang. Werther, ein Mann, der nach und nach erkennen muss, dass er mit der Welt und ihrem Wirken nicht kompatibel ist. So ging es früher auch mir – öfter, als mir lieb war. Inzwischen habe ich erkannt, dass ich selbst es bin, der meine Welt passend oder unpassend macht. Ich selbst – keine höhere Macht, kein unwägbares Schicksal. Ich habe die Alternative, die Werther nie hatte.
Emil Horowitz
Die Geschichte des bedauernswerten Werther war nur schwer zu rekonstruieren. Was ich finden konnte, lege ich auf diesen Seiten dar. Ich denke, man wird es mir einmal danken, denn sein Geist und Charakter verdient unser aller Bewunderung und Liebe, sein Schicksal unser Mitgefühl und unsere Tränen. Und wessen empfindsame Seele unter dem Sturm und unter dem Drang zittert wie die seine, kann Trost schöpfen, und sei es aus seinem Leiden. Dieses Buch kann ein Freund sein, ein kluger Gefährte, wenn es keinen Weg aus der Einsamkeit gibt, verursacht durch das Schicksal oder durch eigene Schuld.
Froh bin ich, fort zu sein, und gleichzeitig: verwirrt. Alter Freund, wie soll es mir gelingen, dich zurück zu lassen, dich, den ich, ja, liebe, mit dem ich unzertrennlich war, und gleichzeitig froh sein – was für ein Widerspruch der Gefühle! Ich weiß, du wirst es mir verzeihen, denn du weißt, was mich treibt. Du weißt alles über meine übrigen Beziehungen, vom Schicksal ausgesucht, mir Furcht einzujagen. Arme Eleonore! Aber war es meine Schuld? Was kann ich für die penetranten Reize ihrer Schwester und die angenehmen Gefühle, die sie bei mir auslösten? Was kann ich für die Leidenschaft, die daraus erwuchs, zwangsläufig?
Bin ich unschuldig? Nein, nicht völlig. Ich habe ihre Empfindungen genährt, habe mich an ihrem Körper erfreut, oft, so oft. Wir haben gemeinsam viel gelacht darüber, aber eigentlich gab es nichts zu lachen.
Schluss damit. Dieses dröhnende Selbstmitleid, du kennst das ja von mir. Ich will mich bessern, alter Freund. Das Winseln über ein bisschen eigenes Unglück wird ein Ende haben. Ich werde die Gegenwart genießen, das Vergangene vergangen sein lassen. Du hast natürlich recht, Freund, so ist der Mensch, das macht ihn aus: sich mit vergangenem Leiden zu beschäftigen, immer und immer wieder, statt die nackte Gegenwart zu akzeptieren. Wie viele Schmerzen könnten wir uns sparen, wären wir nicht, wie wir sind, Gott weiß warum.
Sei so gut, mein Freund, meiner Mutter auszurichten, dass ich mich bestens um ihr Geschäft kümmern werde, und dass sie bald aktuelle Nachrichten darüber erhalten wird. Auch meine Tante habe ich schon getroffen. Sie ist bei weitem nicht das böse Weib, als das sie bei uns gilt. Im Gegenteil, sie ist eine lebhafte, energische Frau, die das Herz auf dem rechten Fleck hat. Ich erzählte ihr von den Klagen meiner Mutter über den zurückgehaltenen Erbschaftsanteil. Darauf eröffnete sie mir ihre Beweggründe und nannte die Bedingungen, unter denen sie bereit wäre, alles herauszugeben – sogar mehr als wir verlangen. Wie dem auch sei, ich möchte an dieser Stelle nicht ins Detail gehen. Bitte sage meiner Mutter, dass alles gut wird. Der kleine Konflikt hat mir wieder einmal bestätigt, dass Missverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Schaden in der Welt anrichten als List und Bosheit, zumindest kommen diese seltener vor.
Übrigens: Mir geht es hervorragend hier. Die Einsamkeit wirkt wie Balsam auf meine Seele in dieser paradiesischen Gegend, und das Frühjahr, diese Jahreszeit der Jugend, mit all ihrer Pracht und Fülle, wärmt mein Herz. Dieses Herz, das sich oft so kalt anfühlt. Jeder Baum und jede Hecke wird zum Blütenstrauß. Man möchte zum Marienkäfer werden, in einem Ozean an Wohlgerüchen herumschwebend und nach Nahrung suchend.
Was für ein Kontrast: Hier die Stadt, in ihrer Art eher unangenehm, und sie umgebend die überwältigende Schönheit der Natur. Sie hat den verstorbenen Grafen von M. veranlasst, auf einem der Hügel einen Garten anzulegen, über den anmutigen Tälern, die von den sich vielfach kreuzenden Hügeln eingefasst werden. Es ist ein einfacher Garten, man spürt sofort, dass der Entwurf aus dem Herzen kommt und nicht aus dem wissenschaftlichen Geist, und dass der Erbauer ihn zum eigenen Genuss angelegt hat. In dem verfallenen, kleinen Kabinett, das sein Lieblingsplatz war und jetzt der meine ist, habe ich die eine oder andere Stunde verbracht und im Gedenken an den Verstorbenen auch die eine oder andere Träne vergossen. Bald wird es mein Garten sein, mit dem Gärtner verstehe ich mich gut, und auch er hat es mit mir wohl nicht schlecht getroffen.
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