Nach einigen Stunden flaute der Essensstrom ab, die Gäste hatten ihren Hunger gestillt und verlangten nun mehr nach Alkohol. Damit wurde es auch für die Bediensteten etwas ruhiger. Es war so eingerichtet, dass jetzt immer einer der Laufburschen reihum eine Pause machen durfte. Bajo ließ den anderen den Vortritt und nahm seine Auszeit erst als Letzter. Als er dann an der Reihe war, führte ihn sein erster Weg zu den Latrinen der Dienerschaft. Diese lagen recht weit entfernt und kosteten ihn bereits einen guten Teil seiner Pause. Da ihm der Magen eine ganze Weile geknurrt hatte, musste schon zwischendurch etwas Bohnenmus herhalten, welches er sich beim Zurücktragen von Resten, einfach von dem Tablet genommen und schnell in den Mund gesteckt hatte. Auf dem Rückweg wollte er dann aber endlich in der Großküche vorbeischauen, denn dort lagen die Essensreste aus, die sich das Personal ganz offiziell nehmen durfte. Doch bevor er dort ankam, fiel Bajo eine Seitentür auf, die einen Spalt weit aufstand. Er hielt inne und kämpfte mit sich selbst. „Nein, tue es nicht. Du weißt, was das letzte Mal passiert ist… Auf der anderen Seite… ich kann ja einfach mal einen Blick riskieren. Zeit habe ich noch und wann werde ich wohl je wieder die Gelegenheit haben, mir den Palast von Schichtstadt anzusehen?“, dachte er sich und lugte schon durch die Tür um die Ecke. Enttäuscht bemerkte er dahinter nur einen weiteren Gang. „Was soll’s…“, war sein nächster Gedanke und er schlich diesen Korridor hinauf bis zur nächsten Abzweigung. Dummerweise bog Bajo ohne jegliche Vorsicht ab, da er keine Geräusche hörte, doch dann erstarrte er augenblicklich: In einiger Entfernung lehnte eine Frau an der Wand. Offensichtlich eine hochwohlgeborene und anscheinend auch beschwipst, denn sie wandte den Kopf relativ langsam Richtung Bajo, drehte sich dann weiter um, wobei sie sich von der Wand wegdrückte, gleichzeitig jedoch auch schwankend an ihr festhielt, hob dann die andere Hand und warf ihm einen Kuss zu. Bajo war wie gelähmt und konnte nur ein breites Grinsen zustande bringen. Die Frau machte eine Handbewegung, die andeutete, ihr zu folgen, drehte um und torkelte einen weiteren Gang hinauf.
Jetzt war Bajo in großer Versuchung. Hatte er doch gerade erst große Sprüche vor seinen Gefährten geklopft und nun war die Situation tatsächlich Realität! Und seltsamerweise kam ihm in diesem Moment auch die Szene mit Leandra in den Sinn, in welcher sie Bajo an dem fröhlichen Abend von der Treppe aus dieses seltsame ‚Tue es nicht‘ zu verstehen gegeben hatte. Was sie wirklich damit gemeint hatte, wusste Bajo noch immer nicht, aber an jenem Abend war er drauf und dran gewesen, sich mit einer Frau zu vergnügen, so wie sich ihm ja auch jetzt die Möglichkeit bot. Sollte er lieber kehrtmachen? Nein, die Versuchung war zu groß! Bajo schluckte einmal kräftig und marschierte der Frau, die schon um die nächste Ecke gebogen war, hinterher. Kurz bevor er allerdings den Gang erreichte, hielt er inne, denn er vernahm Stimmen. Diese entfernten sich aber gleich wieder und so setzte Bajo die Verfolgung fort. Er sah die Schöne gerade noch ein weiteres Mal abbiegen und lief ihr hinterher, wobei er sich in Gedanken schon das Liebesspiel ausmalte, und dann… war sie verschwunden! Bajo lauschte angestrengt, ob er vielleicht ein leises Rufen, Rumpeln oder Türenklappern hören konnte, aber nichts. Er konnte doch jetzt nicht alle Türen öffnen, um nachzuschauen, ob sie vielleicht dahinter wäre. Nein, das war nun doch zu gefährlich, er hatte sich sowieso schon viel zu weit vorgewagt. Auf der einen Seite enttäuscht, auf der anderen Seite aber auch irgendwie erleichtert, drehte Bajo um und setzte zum Rückweg an.
„Wir sind hier alleine und sicherer, wer weiß schon, ob nicht einer aus der Dienerschaft am Ende etwas mithört…“, schallte eine Männerstimme wie aus dem Nichts. Regelrechte Panik ergriff Bajo. Er sprang zur nächsten Tür, die im Verhältnis zu den anderen recht groß war, schlüpfte hindurch und schloss sie leise wieder. Er wunderte sich selbst, wie schnell und gewandt er diesen Akt vollzogen hatte. Jetzt strömten alle Gedanken auf einmal auf ihn ein: „Was, wenn ich hier erwischt werde? In Kontoria hätte man mich als Staatsbürger sicherlich nicht so hart bestraft, aber hier? Als Ausländer? Als potentieller Spion? Bestimmt der Galgen! Was ist, wenn die jetzt genau hier hereinwollen? Wie enttäuscht werden meine Gefährten wohl von mir sein?“ Die Stimmen wurden nun sehr laut - wer auch immer da kam, musste fast an der Tür angelangt sein. Bajo drehte sich um. „So ein Mist!“, fluchte er innerlich denn es war kein Vorhang zu sehen - das Zimmer bloß ein fensterloser Innenraum. Genauer genommen war es ein kleiner Salon mit einem langen Sofa und ein paar großen Sesseln, zwischen denen ein paar kleine Tische standen. Bajo huschte zum Sofa hinüber und rollte sich darunter, gerade noch rechtzeitig, bevor tatsächlich die Tür aufging. „Das ist mein Lieblingsort, wenn ich alleine sein will. Weit weg von meiner Frau, Hahaha. Hier habe ich schon so einige Zimmermädchen und Mägde vernascht!“, tönte die gleiche Stimme von eben. Bajos Herz klopfte hoch bis zum Hals. An der unteren Kante des Sofas, unter dem er lag, hing zum Boden hin eine dichte Reihe von Zierkordeln, durch die Bajo gut hindurch lugen konnte. Er sah, wie sich zwei Männer einander gegenüber auf die Sessel setzten. Der eine schlurfte etwas und war sehr korpulent. Der andere… den anderen kannte Bajo! Es war der merkwürdige Kerl, den er von seinem Versteck aus im Palast von Kontoria gesehen hatte. Angestrengt überlegte er, aber er kam nicht auf den Namen.
„Nun, Eure Eminenz“, begann jener schon bekannte, „da Ihr euch mit mir treffen wolltet, entnehme ich dieser Tatsache, dass Ihr offen für meine Andeutungen seid.“ „So ist es, mein lieber Delminor, so ist es“, bestätigte der Korpulente und jetzt klingelte es bei Bajo wieder, ‚Delminor‘ war der Name! „Ihr habt angedeutet, dass Ihr mir etwas geben könnt, was ich begehre, wenn ich ein Komplott mit Euch eingehe. Da bin ich erstmal neugierig geworden. Aber bedenkt, als Herrscher von Schichtstadt könnt Ihr mich nicht für Gold und Edelsteine kaufen!“ Bajos Augen wurden vor Schreck ganz groß, „Ach du meine Güte, der Peschmar!“, schoss es ihm durch den Kopf. „Das ist mir sehr wohl bewusst, Eure Hoheit, nein ich kann euch natürlich etwas ganz Besonderes anbieten!“, fuhr Delminor fort. „Na, dann rückt schon raus mit der Sprache, spannt mich nicht auf die Folter!“, drängte der Peschmar. Delminor erläuterte: „Mein Gebieter, Gamor der Große, hatte sich gewundert, dass sein Vorgänger ‚Arus der Gütige‘ so ein hohes Alter erreichte. Als sein Nachfolger richtete er sich in dessen ehemaligen königlichen Gemächern ein und fand im Nachttisch einen seltsamen Stein…“ „Einen Melonstein!“, unterbrach ihn der Peschmar freudig erregt. Delminor nickte: „Ja, in der Tat, die Alchemisten bestätigten die Echtheit dieses Juwels. Da Arus den Tod seiner Söhne nicht verkraftet hatte, legte er den Stein wohl beiseite, um zu sterben.“ „Ein Melonstein! Den muss ich haben!“, geiferte der Peschmar. „Was muss ich tun? Schnell, sagt mir, was ihr verlangt?“ „Oh, es ist eigentlich nicht viel…“, deutete Delminor an und beugte sich zum Peschmar herüber, um ihm etwas zuzuflüstern.
Bajo strengte sich an, die Worte zu verstehen, aber er - das heißt, auch die Schnatterwürmer - konnte nur ein paar Brocken heraushören. Er verstand „ein paar Truppen aufmarschieren“, „Euch natürlich nichts tun“ und „Hilfe anfordern“.
Der Peschmar strich sich mit der Hand unruhig um das Kinn. „Ihr wisst, dass ich zu Karamin und damit zu Mondaha eine sehr gute Beziehung habe…“ „Gewiss, Eure Herrlichkeit, aber das ist doch das Geniale, euch trifft keine Schuld! Ein Freund ruft den anderen um Hilfe, mehr ist es doch nicht“, beruhigte ihn Delminor. „Ich weiß nicht…“, zögerte der Peschmar. „Karamin ist ein treuer Freund… Und wieso will sich Gamor eigentlich von diesem Schatz trennen? Das finde ich doch sehr merkwürdig, da ist doch was faul…“ Delminor beschwichtigte den Herrscher: „Vertraut mir, Eure Großzügigkeit, Gamor legt keinen Wert auf diesen Stein. Er ist der Führer unseres Glaubens, ein Bote Helimars selbst. Er sehnt sich nach dem Paradies unseres Gottes. Wenn er sein Werk auf Erden vollbracht hat, geht er mit Freuden in seine Welt über. Je eher, desto besser! Und seid unbesorgt wegen eures Freundes, wenn Ihr es wünscht, werden wir ihn und seine Familie gehenlassen und er kann bei euch Zuflucht finden. Bedenkt, Ihr seid nicht mehr der Jüngste. Wollt Ihr nicht noch viele Jahre euren Reichtum genießen? Denkt nur an die vielen Jungfern, die ihr noch beglücken könntet!“ Die Augen des Peschmars wurden wieder größer: „Jaaa, ja Ihr habt recht! Aber Ihr müsst schwören, Karamin gewähren zu lassen! Und wenn was schiefläuft, wusste ich von nichts! Und den Stein, ja den Stein will ich zuerst haben, bevor ich da mitmache!“, dann fügte er schelmisch grinsend noch hinzu: „Er bedeutet Eurem Führer ja eh nichts, nicht wahr…?“ Delminor war zufrieden und reichte dem Peschmar die Hand: „So soll es sein, Eure Prächtigkeit, lasst uns den Pakt besiegeln, er wird uns beiden Glück bringen!“ Der Peschmar schlug ein und die beiden erhoben sich wieder.
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