Noch nie war ich an einem solchen Ort gewesen, die hohen Hecken, die dunklen Steine mit den goldenen Schriftzügen, das alles wirkte fremd und beklemmend. Dann war da ein breites Beet, blumenbewachsen, ein mächtiger Stein am hinteren Ende, „Erbbegräbnis der Familie Yolck“ las ich darauf, und seitlich darunter Mamas Name und zwei Jahreszahlen. „Da liegt deine Mutter,“ sagte die fremde Frau und legte einen kleinen Blumenstrauß neben den Stein. „Aber ihre Seele ist nicht hier, sie ist im Himmel, und sicher schaut sie von dort herab und sieht dich.“ Sie hat es gut gemeint, aber verstehen konnte ich nicht, was sie sagte. Wie sollte ich auch begreifen, dass Mama dort tief in der dunklen Erde lag und zugleich vom Himmel herabschaut – wie sollte ich überhaupt verstehen, dass sie fort war, dass sie mich alleingelassen hat.
Die Schule begann, die Lehrerin sagte zu den anderen Kindern, dass ich meine Mama verloren hätte und dass sie nun besonders lieb zu mir sein müssten. Aber das war nach einigen Tagen schon wieder vergessen, und mir war es auch lieb, dass die Schulkameraden mich nicht mehr nach meiner Mama fragten. Ich konnte ihnen doch nicht erzählen, dass sie irgendwo vergraben lag und zugleich im Himmel war.
Den Vater sah ich noch seltener als früher, und wenn er im Haus war, blickte er mich nur traurig an. Erst später erfuhr ich, ich sähe meiner Mutter sehr ähnlich, und das hätte ihn stets an seinen Schmerz erinnert. Und auch das andere habe ich erst viel später erfahren: Dass er zwar täglich fortging, aber nur selten in seiner Fabrik ankam, sondern stundenlang auf dem Friedhof weilte und danach ziellos durch die Straßen lief. Die Aufträge für das Werk, die Produktion, der rechtzeitige Versand – das alles kümmerte ihn nur noch wenig; eine Zeitlang warteten seine Angestellten noch auf die nötigen Anordnungen, dann begannen sie, selbst zu handeln und selbst zu entscheiden. Nur weil zwei treue Prokuristen, die noch unter Großvater gearbeitet hatten, die Geschäfte erledigten, blieb das Werk erhalten. Um die Gewinne allerdings kümmerte sich niemand, es gab keine Spenden mehr von der Yolck Pharma KG, aber es gab auch kaum noch größere Investitionen, weil der unternehmerische Weitblick fehlte. So jedenfalls hat man es mir erzählt – später, als ich schon fort war von zu Hause.
Als der Großvater - Kurt Yolck - die Firma in die Hände meines Vaters legte, verblieb er jedoch als Gesellschafter, nunmehr als bloßer Kommanditist, und in einem Anflug von Großmut trat er einen kleinen Teil seines einliegenden Kapitals an meinen Onkel Peer ab, machte ihn damit zum Mitgesellschafter. Ach, dieser Peer! Eigentlich war er nichts als ein früher Fehltritt des Großvaters, und es gab nur wenig Kontakt zwischen den beiden Brüdern. Kurt Yolck hatte gerade eine Apotheke in der Innenstadt übernommen und sich in die erste Helferin, die er danach einstellen konnte, verliebt. So kam, überraschend und ungewollt, Peer, der erste Sohn, zur Welt, und wie es in den zwanziger Jahren von einem Ehrenmann erwartet wurde, hat der Großvater die Mutter noch vor der Geburt geheiratet und damit den Sohn legitimiert. Doch die Ehe ging ebenso rasch auseinander, wie sie geschlossen wurde – die junge Frau fand einen neuen Liebhaber, Kurt ließ sich scheiden, der Sohn verschwand mit der Mutter aus der Stadt, nur die Alimente verbanden Vater und Sohn miteinander.
Peer Yolck war ein kleiner, untersetzter Mann, schon bald nahezu kahl, aber er hatte einen bohrenden Blick, der mich stets unsicher machte. Und er war auf seine Weise geschäftstüchtig – mit dem ja nur geringen Gewinn, den er der Yolck Pharma KG verdankte, wusste er an der Börse zu einem gewissen Reichtum zu kommen. Er kleidete sich stets nach neuester Mode, pflegte Kontakt zu anderen Geschäftsleuten, heiratete in eine alteingesessene Hamburger Kaufmannsfamilie ein, die allerdings im Nachkriegsdeutschland wenig Anteil am Wirtschaftswunder hatte. Doch der Name behielt seinen alten Klang und öffnete auch dem Schwiegersohn manche sonst verschlossene Tür. So war er auch in unserer Stadt, die ja stets die verarmte Schwester des groß gewordenen Hamburg war, kein Unbekannter.
Und dann, einige Monate nach Mamas Tod, als der Vater noch mit dem Schmerz rang, als die Yolck Pharma ziellos dahintrieb und Großvater sein Werk in Gefahr wähnte, kam es zu jener denkwürdigen Sitzung der Gesellschafterversammlung, aus der Vater mit leeren Händen herausging: Peer bewog seinen Vater, Eike Yolck als Geschäftsführer zu entmachten; gemeinsam schlossen sie meinen Vater aus der Gesellschaft aus, nicht einmal als Kommanditist schien er ihnen noch tauglich, nur eine kleine Rente setzten sie dem Gescheiterten aus. Peer aber wurde zum persönlich haftenden Gesellschafter bestellt, übernahm die Führung und das Vermögen der Firma und bald auch unsere Villa.
Der Vater, willenlos und hilflos, ließ alles geschehen, wie ein Verbannter, ein Aussätziger ließ er sich, kaum fünfzig geworden, in das kleine Zimmer im Stift sperren. Vielleicht hätte er ja wieder zu sich selbst gefunden, wenn die erste Trauer gewichen wäre, doch nun blieb ihm nichts mehr als eben seine Trauer, sie wurde sein Lebensinhalt, und bald war der einst große Gönner seiner Vaterstadt ein Vergessener, lebte er verbittert und gemieden das Leben eines alten Mannes, und es dauerte nicht lange, dann nahm er auch das Aussehen eines alten Mannes an.
Ich war gerade zehn Jahre alt geworden, der Wechsel auf eine weiterführende Schule stand an, doch der Vater war unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Es war der Großvater, der sich meiner erinnerte: Er hatte dieser Machtübernahme durch meinen Onkel nur zugestimmt, als dieser versprach, für den Neffen zu sorgen, der nun kein Erbe mehr war, sondern ein verarmter Verwandter: Peer Yolck sagte zu, mir eine exzellente Ausbildung zu verschaffen. So kam ich nach Lenorenlund. Er sagte auch zu, dass ich später – wenn ich es denn wollte – Gesellschafter der Yolck Pharma werden könne. Allerdings, es gab darüber keinen Vertrag, kein Dokument, es war allein das Wort des ehrbaren Kaufmanns, auf das Großvater vertraute. Und bislang hatte das Internat pünktlich mein Schulgeld erhalten, einschließlich einer Summe, die mir als Taschengeld zugedacht war und die ich kaum je in voller Höhe ausgegeben habe.
Es ist deine Jugend, Jason Yolck, du Spiegelbild vor meinen Augen, die ich dir erzählt habe. War es eine schöne Kindheit? Denke nach, urteile nicht vorschnell! Du hast wunderbare Jahre verbracht in jener Villa mit ihrem Garten, nicht wahr? Du hast schreckliche Zeiten durchlebt in deiner Suche nach einer verlorenen Liebe, die dich solange getragen hatte. Du bist furchtbar einsam gewesen, auch das ist wahr. Du hast ein Zuhause gefunden in jenem weißen Schloss auf dem hohen Ufer über der Förde, erst im Dorf und dann in einem der Kavaliershäuser, ein Zuhause mit Freunden, mit Kameraden, die dir Achtung entgegenbrachten, die dir vieles anvertraut haben, mit Lehrern, die mehr waren als Unterrichtende, fürsorglich und väterlich. Hast du etwas vermisst? Kannst du dich beklagen? Denke gut nach, ehe du antwortest! Du musst Rechenschaft geben über dein Leben, ehe es endet, und dieses letzte Zeugnis wird gültig bleiben im Gericht – wer auch immer dich richten wird und welche Gesetze dann gelten mögen. Hast du ausreichend Liebe empfangen, damit man von dir auch erwarten konnte, dass du Liebe verschenken würdest, und hast du es getan? War es wirklich Liebe, was du anderen gegeben hast? Sei ehrlich, Jason Yolck, wenigstens diese eine Mal sei ganz und gar ehrlich, weil es das letzte Mal ist für eine Antwort.
Dr. Scheer war ein hagerer, hochgewachsener Mann, die hohe Stirn wirkte noch höher, seit sein Haaransatz sich unaufhaltsam weiter zurück bewegte. Obwohl er erst Mitte Vierzig war, wurde das schüttere Haar bereits sichtlich grau. Er trug es kurz geschnitten, so dass auch der freie Nacken seine Größe betonte. Wie die meisten Lehrer trug er Jeans und ein dunkles Oberhemd, das angesichts der ungewohnt warmen Temperatur auch am Abend noch völlig ausreichte. Er hatte sein Arbeitszimmer ein wenig aufgeräumt, nicht zu viel, denn er wollte seinem Gast keine bewusste Ordnung vorspielen, aber doch soweit, dass das sonst übliche Chaos auf seinem Schreibtisch gebändigt erschien. Auf dem Tischchen in der Sitzecke standen bereits zwei Kristallgläser und eine Flasche Rotwein – er hatte eine möglichst leichte Sorte gewählt, schließlich erwartete die Schule gerade von ihren bereits volljährigen Schülern, dass sie zurückhaltend umgehen mit allem, was Alkohol enthält. Ein Internat, das schließlich auch Zehnjährige beherbergt, hatte leicht einen guten Ruf zu verlieren.
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