»Früher, als ich noch klein war, wohnte ich mit meinem Papa Olaf und meiner Mama Nicole in Schwarzenbach. Kennst du den Ort? Er heißt Schwarzenbach, weil ein kleiner Fluss durch den Ort und von dort in den tiefen schwarzen Tannenwald fließt, wo die wilden Wölfe wohnen. Papa und Mama sind damals oft mit mir im Wald spazieren gegangen und haben mir von den Wölfen erzählt. Gesehen haben wir sie aber nie. Im Winter durfte ich auf einem Holzschlitten sitzen und Papa hat mich durch den Wald gezogen. Bis hin zu der großen Wiese. Dann haben wir einen Schneemann gebaut. Papa hat extra Kohle für die Augen und eine Möhre für die Nase mitgenommen. Den Rückweg haben wir abgekürzt. Papa hat sich mit auf den Schlitten gesetzt und wir sind schnell wie der Blitz den Hügel runtergefahren. Fast bis vor unsere Haustür. Zuhause gab es dann Kuchen und Kakao und Mama hat mir noch eine Geschichte vorgelesen.« Janas Augen glänzten schon wieder und in ihrem Hals hatte sich der dicke Kloß gebildet, der dafür sorgte, dass sie nicht richtig schlucken konnte.
Bob hatte aufmerksam zugehört. »Warum bist du jetzt in Wolkenheim?«
Jana hockte sich auf den Boden und klopfte mit der Hand auf den weichen Teppich. »Setz dich zu mir, dann erzähle ich die ganze Geschichte.«
Bob sprang wie der Blitz von der Fensterbank, verlor das Gleichgewicht und plumpste neben Jana auf den Teppichboden. »Nix passiert.« Er grinste sie an. »Kann losgehen.«
»Mit Mama und Papa war es toll. Und mit meinen Freunden auch. Die habe ich im Kindergarten kennengelernt. Mit vier Jahren war ich nämlich groß genug, um den Blau-Bär-Kindergarten in Schwarzenbach zu besuchen. Außer mir waren da noch ganz viele Kinder und es war schön, zusammen Blumen zu pflücken oder Schlitten fahren zu gehen. Meine beste Freundin war Leonie. Sie hat mich oft zuhause besucht. Das war so gemütlich.«
»Das klingt fantastisch«, meinte Bob. »Erzähl weiter!«
Jana holte tief Luft. »Nach meinem sechsten Geburtstag durfte ich dann in die Schule gehen. Leonie war auch in meiner Klasse und außerdem noch Leon, Tobi, Niclas und Jannik aus meiner Kindergartengruppe. Wir waren ein richtig gutes Team und haben uns oft nach der Schule getroffen. Jannik hat mir gezeigt, wie man auf Inlinern fährt und Tobi hatte eine X-Box, auf der wir Autorennen gefahren sind.«
Nachdenklich sah Jana aus dem Fenster und beobachtete die Schneeflocken, die nun immer dichter vom Himmel fielen.
Bob hüpfte aufgeregt durch das Zimmer. »Es schneit. Es schneit. Bald kann die große Reise beginnen.«
»Welche Reise?« Jana blickte den kleinen Kerl verwundert an. »Wirst schon sehen. Aber erst erzähl mal weiter. Was ist denn nun passiert? Warum bist du hier?«
»Mein Papa war ein toller Kerl. Er durfte große Düsenjäger fliegen. Oft ist er über unser Haus geflogen und hat eine Schleife gedreht. Im November ist er morgens zur Arbeit gefahren. Ich weiß noch genau, wie es war, denn ich war krank und durfte nicht zur Schule gehen. Deshalb hab ich ihm noch nachgewinkt und er hat mir zugelacht und gerufen »bis heute Abend.« Aber er ist nicht mehr nachhause gekommen. Nur zwei Männer waren da und haben lange mit Mama in der Küche gesessen und geredet. Mama hat geweint und gesagt, dass Papa jetzt im Himmel ist. Tja, und von dem Tag an war alles anders. Zuerst mussten wir in eine kleine Wohnung ziehen und Mama hat sich eine Arbeit gesucht. Dann war auf einmal Sven da und Mama war wieder fröhlich. Aber ich war immer noch traurig. Sven arbeitet in Wolkenheim und deshalb sind wir in diese Wohnung gezogen. Vorher haben Mama und Sven noch groß gefeiert. Die ganze Familie von Sven war da. Mama hat gesagt, dass seine Familie jetzt auch unsere Familie ist. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte meinen Papa wieder haben. Und Oma Berta, die so gut Plätzchen backen kann. Aber die ist jetzt bei Papa im Himmel. Er hat sie geholt. Mich hat er bei Mama und der neuen Familie gelassen. Seit zwei Jahren wohnen wir schon hier. Das Baby ist auch schon ziemlich groß geworden. Aber das sehe ich nicht so oft. Sven nimmt sie immer mit zur Arbeit. Mama muss auch arbeiten, damit wir die Wohnung bezahlen können. Sie sagt, ich sei ein großes Mädchen und könne schon alleine im Haus bleiben. Das kann ich ja auch. Aber ich habe keine Freunde hier und fühle mich so einsam. In der Schule ärgern mich die Kinder, weil ich so dumm bin. Dabei bin ich gar nicht dumm. Nur traurig. Das ist denen aber egal. Und die Lehrer sind froh, wenn Schulschluss ist. Na ja, das geht mir ja auch so.« Jana stupste Bob an. »Gut, dass ich dich jetzt kenne. Willst du mein Freund sein?«
Bob sprang auf und hüpfte vor Janas Bauch hin und her. »Na klar, was denkst du denn? Bald geht die Reise los. Hab ich doch schon gesagt.« Jana stand auf und sah in den Himmel. Die silberne Rutsche war kaum noch zu erkennen. »Es ist dunkel. Gleich kommen die anderen heim. Vielleicht hat Sven Pizza vom Italiener besorgt. Das wäre schön. Ich mag nämlich Pizza. Die kribbelt so schön im Hals und dann muss ich immer lachen.« Bob nickte heftig. »Ich muss jetzt auch gehen. Wir sehen uns. Ich komme wieder und dann geht die Reise los.«
So flink, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder. Noch nie hatte Jana einen so gelenkigen Mann gesehen. Er hüpfte die Eisrutsche nach oben in die Wolken und die Bommeln seiner Mütze flatterten im Wind.
Jana versuchte, das Wolkenschiff zu sehen. Aber es war dunkel und der Schnee verdeckte die Sicht. »Hoffentlich hält er sein Versprechen«, murmelte sie vor sich hin. Der Schlüssel klapperte in der Tür. Nicole war endlich gekommen. Jana lief aus dem Zimmer und sprang ihrer Mutter in die Arme.
»Jana!!!Was ist schon wieder mit dir los? Träumst du? Was habe ich euch gerade erklärt? Wiederhol mir bitte, was ich gerade gesagt habe.«
Streng und ärgerlich sah Frau Grieskemper Jana an.
Jana fühlte, wie ihr Gesicht erst heiß und dann rot wurde. Ihre Hände fühlten sich ganz feucht und kalt an und sie merkte, wie der Kloß in ihrem Hals so groß wurde, dass sie kaum noch atmen konnte. Dann musste sie an Bob denken und ein kleines Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. »Tut mir leid Frau Grieskemper. Ich habe nicht zugehört.«
Die Lehrerin schüttelte den Kopf, während die anderen Kinder laut lachten. Diesmal machte es Jana nichts aus. Sie freute sich auf den Nachmittag. Denn dann würde Bob kommen. Er hatte es versprochen.
Im Nachmittags-Unterricht war malen angesagt. Jana wurde zum ersten Mal gelobt. Ihr Bild zeigte einen wolkenbehangenen Himmel, von dem eine silberne Rutsche hinunter auf die Erde führte. Am Fuß der Rutsche stand ein kleines Mädchen, das sehnsüchtig durch fallende Schneekristalle nach oben blickte.
Stolz durfte Jana ihr Gemälde der Klasse vorstellen. Dann wurde es zu anderen Bildern an die lange, weiße Wand gehängt. Dort durften nur die besten Schüler ihre Werke platzieren. Jana bemerkte, wie Noelle sie bewundernd ansah, und freute sich. Sie fühlte den stechenden Blick von Louis in ihrem Rücken. Diesmal hatte sie keine Angst. Sein Bild war nicht gut gelungen. Sollte er sich ruhig darüber ärgern. Sie grinste ihn an, als sie sich zu ihm umdrehte. Dann setzte sie sich leise auf ihren Platz. Noelle lächelte ihr zu und schüchtern erwiderte sie die Geste.
Nach Schulschluss stürmte sie im Eiltempo heim. Bestimmt würde Bob bereits auf sie warten.
Sie war enttäuscht, als sie die Wohnungstür öffnete und ihn nicht sah. Er war also nicht gekommen. Wütend schleuderte sie ihren Schulranzen hinter das Bett. »Autsch,« kam es laut aus der Ecke hinter dem großen Kopfkissen. »Willst du mich erschlagen?«
Nun musste Jana lachen. Denn hinter dem Kissen bewegte sich etwas Buntes. Sie wusste gleich, dass es sich bei diesem wuseligen Wesen um Bob handelte. »Tut mir leid. Ich war wütend, weil ich dich nicht bemerkt hatte.« Bob sah sie strafend an. »Du solltest wirklich lernen, deinen Groll zu beherrschen. Das tut mir nicht gut und dir auch nicht. Und sag mir nicht, dass du dich bei solchen Aktionen gut fühlst. Das glaube ich dir nämlich nicht.« Der bunte Zwerg sprang aufgeregt hin und her und schüttelte ständig mit seinem Kopf, sodass die Bommeln seiner Mütze wild hin und her flogen.
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