Sie wissen, wovon ich rede, ich muss das nicht weiter ausführen.
Die von Kalle abgeschossenen Übungstorpedos treffen alles, nur kein vorbestimmtes Ziel, lassen unter anderem schwedische Schären-Inselchen erbeben, aber eben nicht seine Soll-Ziele. Fast versenkt er einen dänischen Fischkutter, was ihm gewaltige Flüche auf Dänisch einbringt, die ihn aber nicht weiter berühren, weil die beiden Schiffe Meilen auseinander liegen und sein Dänisch „ausbaufähig“ ist..
Endlich trifft er wieder seine Anna Walentina und alles ist gut. In diesen Momenten hätte dann ein blind von ihm abgeschossener Torpedo ein Zweimarkstück auf dem Mond getroffen, mindestens...
Das zwischen Anna und Kalle ist mehr als eine Jugendliebe und doch noch nicht die ganz große Liebe, aber das wissen die beiden nicht. Selbst Mutter Natur arbeitet noch daran. Für die beiden ist es im Jahrhundertsommer 83 alles, was das Leben Süßes für eine(n) bereithalten kann!
Kalle will nicht mehr ohne seine Anna Walentina sein, Anna Walentina nicht mehr ohne Kalle. Shakespeare hätte ein Stück darüber schreiben können, wäre er nicht viel zu früh gestorben...
Als der Sommer schon Herbst geworden ist, kommt Anna Walentina irgendwann nicht mehr. Nach einem weiteren mehrtägigen Manöver von Kalles Flotille mit denen befreundeter sozialistischer Länder auf der Ostsee ist sie wie vom Erdboden verschwunden, und selbst der russische Fahrer will von nichts etwas wissen. Der Mann kennt das Militär und vor allem seinen Oberst. Bei beiden muss man nicht, darf man nicht alles wissen. Kalle wartet, Kalle sucht, Kalle findet sie nicht, Kalle ist verzweifelt.
Irgendwann nimmt Kalle allen Mut zusammen und erbittet eine private Audienz bei Annas Papa. Das kann eine gute Idee sein oder eine ganz schlechte, je nachdem, wie der Oberst drauf ist...
Der ist sogar erstaunlich gut drauf, sagt, auch in Uniform sei er im Moment Privatmann und bietet Kalle sogar einen Sitzplatz an. Er tut ganz erstaunt, als wisse er von nichts. Sein Augenstern, die liebe Anna, die sei heim nach Wologda, die Sommerferien seien doch schon lange zu Ende, und sie müsse schließlich die Schule fertig machen. Es sei schließlich ihr Abschlussjahr! Wer er denn, bitte schön, sei, Dienstgrad und Einheit? Und was er von seiner kleinen Anna wolle? Ob da etwas am Oberst oder Vater vorbei gelaufen sei, was er wissen sollte? Nein, dann sei es ja gut. Und dann fragt er plötzlich, ob Kalle sich wie ein Gentleman benommen habe, das habe er doch wohl, oder? Über die Konsequenzen eines „oder“ mag Kalle lieber gar nicht erst nachdenken, weshalb er versichert, mehr Gentleman als er könne einer gar nicht gewesen sein. Nein, es sei nur reine Freundschaft, die ihn hierhertreibe, eine seelische Freundschaft mit Anna, sie habe zudem nur ihr deutsch mit ihm und seine Grundkenntnisse im Russischen verbessern wollen.
Dem Gesicht des Herrn Papa ist anzusehen, dass der Oberst von der Natur der Dinge junger Menschen erstens mehr weiß, als er zuzugeben bereit ist, und dass er zweitens Kalle kein Wort bis noch weniger glaubt.
Aber er bleibt nett, heuchelt Verständnis und bietet Kalle zu guter Letzt sogar einen Trostwodka an... Die Anna, die werde sich schon noch bei ihm melden, beruhigt er Kalle, als gute Freundin seiner Seele.
Aber Anna, seine Anna, die liebste Anna ist tatsächlich fort, weit, nein, ganz weit fort... Verlust, Verzweiflung, verrückte Gedanken, sie zu holen – aber das würde Desertion und alles Mögliche bedeuten, an das er gar nicht zu denken wagt, bis hin zum Auftritt vor einem Peloton. Nein, das ist nicht gut. Nicht für ihn und nicht für sie.
Kalle erkennt: Es ist schließlich sein LEBEN, nicht sein Roman! Im Roman, ja, im Roman hätte er sofort alle Brücken abgebrochen, um sie zu treffen, mit ihr zusammen oder eins zu sein. Vielleicht hätte er – nur im Roman! –sogar sein Schnellboot gekapert, um nach Wologda zu schippern, um sie zu holen. Leider war es aus geografischen Gründen so gut wie unmöglich, mit einem geklauten Schnellboot der DDR-Marine Wologda zu erreichen, naja, ehrlich gesagt, es war nicht nur die Geografie, die dagegen sprach, die wahrscheinlich sogar als letzte...
Gut, dass Kalle das unmögliche Unterfangen seiner Wünsche in einem sehr frühen Stadium abbricht. Unter anderem, weil die DDR-Justiz mit Bootsdieben erfahrungsgemäß nicht sehr sanft umgeht. Aber auch, weil das Leben anderes mit ihm vorhat, aber das weiß er noch nicht.
Irgendwann trifft der erste einer Reihe von Briefen mit einer russischen Briefmarke ein, in dem eine sehr geknickte Anna erklärt, der Papa habe sie gegen ihren Willen heim in die Sowjet-Union nach Wologda zur Mutter geschickt: Um die Schule fertig zu machen und um ein Studium „Internationales Recht und internationale Ökonomie“ zu beginnen und vor allem, um diesen Flegel von deutschem Soldaten zu vergessen, für den sie noch viel zu jung sei, sie sei doch noch ein Kind – und er... ein Deutscher! Natürlich, schrieb sie, sei sie gar nicht mehr zu jung, sie sei eine Frau, das fühle sie, das wisse sie, das wisse er... Und sie würde ihn nie, nie, nie vergessen. Nicht ihn, nicht seine Liebe und nicht..., also gar nichts. Und sie sei sicher, sie würden wieder zusammenkommen, nicht heute, nicht morgen... Aber sie würden es schaffen!
Sie wissen, was in solchen Momenten geschrieben wird, das können wir hier also abkürzen. Wir kommen sowieso darauf zurück.
Aber das mit der Liebe sei ganz sicher. Und überhaupt, das sei alles so hinterhältig und gemein..., typisch Vater eben. Dabei liebe sie ihn, Kalle, doch und alles sei so schwer ohne ihn.
Wologda liegt in Russland, irgendwo im Nirgendwo nordwestlich von Moskau und im anderen Nirgendwo nordöstlich von St. Petersburg – auf dem Globus ist das nicht aus der Welt – für unsere beiden Liebenden hätte allerdings eine(r) auch auf dem Mars leben können. Wologda, das war einfach „aus der Welt“. Wenn die Welt eine Scheibe wäre, hätte es hinter dem Horizont auf dem Rücken einer der Schildkröten gelegen, auf denen die Scheibenwelt ruht. Unerreichbar wie ein Paralleluniversum. Später werden Annas Briefe (die übrigens nie eine Absenderadresse enthalten) seltener, die Inhalte kürzer und nüchterner und irgendwann, da studiert sie schon, ist es – das muss im Winter 1984 sein – der letzte Brief mit einem letzten dicken roten Abschiedskuss auf dem Briefpapier. Dann kommt nichts mehr. Vielleicht, weil Papa in die Heimat versetzt worden ist.
Es dauert lange, bis Kalle die hübsche Anna mit ihren zauberhaften Sommersprossen „überall“ überwunden hat. Erst ist Anna einen Sommer lang eine große Liebe, dann eine schmerzhafte Erfahrung, sie wird zu einer bloßen liebgewonnenen Erinnerung, und schließlich mutiert sie zu einer schönen – immer blasser werdenden – Reminiszenz, die Kalle aber weder loslassen kann noch missen möchte. Manchmal erscheint ihm seine Anna Walentina ganz nahe, und dann scheint sie für Monate vollkommen aus seinem Leben verschwunden zu sein. Nur um irgendwann völlig unerwartet wieder aufzutauchen, um alte Wunden aufzureißen. Manchmal spricht er dann mit ihr, manchmal gibt sie ihm plötzlich (gute) Ratschläge, übrigens nie einen schlechten – ganz verlieren kann und will Kalle seine Anna Walentina nie.
Ich vermute, Sie kennen das.
1987.Kalle kommandiert inzwischen eines der Schnellboote, die in Dranske liegen, in seinem Annaschmerz ist er der Beste seines Faches in Ost (und West). Er wird ein richtig guter Seemann. Wenig später kommandiert er die ganze Flottille usw. Er macht Karriere aus fachlichen und nicht aus politischen Gründen.
1990.Sein russisch ist inzwischen auch recht gut geworden, weil er ab 1990 in Moskau u.a. „Theoretische Marinewissenschaften“ lehrt, und – falls er Anna zufällig einmal treffen sollte...
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