25. Mai 2019. Der Tag versprach vielversprechend zu werden, fand Kalle, als er sein Strandcafé „Sandkiste“ in Prora Süd öffnete.
Die Sonne schien seit Stunden vom strahlend blauen Himmel. Anfang Mai ging sie schon kurz nach fünf Uhr morgens auf. Der Sand blinkte weiss in der Sonne, war aber noch kühl, und das Wasser lud nur vom Ansehen her zum Schwimmen ein. Für die jetzt schon anwesenden Touristen war es sogar zum Planschen noch viel zu kalt.
Kalle lockte das Wasser eh nicht, er verkniff sich das Baden, wo er konnte, denn er war Seemann durch und durch. Was ein echter Seemann ist, der vermeidet es, Schwimmen zu lernen, denn falls einem mal „der Pott unterm Arsch wegsäuft“ (´tschuldigung, aber so sagen das Seeleute [vermute ich]), will Seemann nicht lange, durch im Endeffekt doch sinnlose Schwimmversuche, mit dem Meer kämpfen müssen, da soll „es“ einfach schnell gehen.
Außerdem sagte Kalle, wenn ihn jemand, zum Beispiel eine Badenixe im knappen Badeanzug, zum Eintauchen überreden wollte, dass Gott ihm doch bestimmt Kiemen gemacht hätte, wenn er wolle, dass er schwimme. Meist fügte er noch an, dass sie, wenn sie allein wäre, nachher – also nach dem erfrischenden Bade – gerne auf ein Gläschen Heisses zum Aufwärmen oder Kaltes zum Vorglühen oder so in die Sandkiste kommen könne – totaler Chefservice inklusive. Wie der „Chefservice“ ausfiel, hing von der Nixe ab... Kalle konnte jedenfalls sehr charmant sein! Wenn er wollte. So viel dazu.
Was er nicht sagte war, dass er bei karibischen Wassertemperaturen und der richtigen Bikini-(kaum)bekleideten Begleitung auch zum Baden zu überreden gewesen wäre...
Mandy, seine fast immer gut gelaunte Bedienung, nahm sich einmal wieder die Freiheit, erst irgendwann im Laufe des Vormittages aufzutauchen – wenn überhaupt, denn offenbar gab es einen neuen Supermann in ihrem Leben, und der schien diesmal Langschläfer zu sein. Sie hatte ihn als Typ „mittelgroßer schlanker Triathlet mit mächtig vielen Muckis“ beschrieben, und – mit einem kleinen Lächeln – als gut gebaut und sehr leistungsfähig, was immer sie damit meinte. Mandy legte es jedenfalls nicht so sehr auf Gespräche über die Entstehung des Universums, des Lebens und dem ganzen Rest an, auch mathematische oder philosophische Diskussionen waren nicht ihr „Ding“. Sie war nicht dumm, das keinesfalls, aber sie meinte manchmal, wenn sie mit Kalle redete, dass sie im Job schon genug sagen müsse, und das sei manchmal ein fürchterlicher Scheiß, was Kerle von sich geben, wenn sie balzen –das reiche ihr – da müsste sie nicht auch noch abends...
Die „Sandkiste“ war nichts Besonderes, eigentlich im Grunde nur eine aufgemotzte Bretterbude am allerdings wunderbar weißen Südstrand von Prora, die ganz früher einmal als Bootsschuppen für Fischerboote und -netze gedient hatte. Das war lange her, lange bevor die Nazis ganz in der Nähe das KdF-Bad Prora aus dem Boden gestampft hatten.
Damals begann für wenige Monate ihr neues Leben als Feldküche für die Bauarbeiter. Auch lange her. In den 80er Jahren hatte ein Matrose der Hochseereederei der DDR, der wohl mal auf Kuba gewesen war, die „Sandkiste“ in eine karibische Bar umgebaut, in der vor allem Rum-Mischgetränke von „Kubanerinnen“ aus Sachsen ausgeschenkt wurden. Nur die geringste Menge des hier ausgeschenkten Rums kam tatsächlich aus Kuba – Zucker brennen konnte jeder Rübenbauer! Aber für die wichtigen Gäste gab es schon den echten. Für ein paar Jahre erlebte die Bar einen Boom, bis sie nach der Wende wieder in einen genauso tiefen Dornröschenschlaf verfiel wie die Nazi-Bauten in der Nachbarschaft.
Wobei verfiel genau das richtige Wort war, um ihren damaligen Zustand zu beschreiben, als Kalle die „Sandkiste“ erworben hatte, um sie wieder als Strandbar herzurichten. Inzwischen kamen abends sogar Touristen aus dem sich mondän gebenden Binz oder aus Sellin, das vom Image her Binz deutlich hinterherhechelte.
Kalle hatte mit viel Handarbeit aus einem mehr oder weniger zusammengefallenen Bretterhaufen seine Strandbar zusammengewerkelt. Er verschob die alte Bude dabei um mehrere einhundert Meter den Strand entlang in Richtung Binz und ca. 25 Meter vom Strand weg in den lichten Kiefern- und Birkenwald auf den Dünen. Er baute sie genau über einen alten Bunker wieder auf, der vergessen und versteckt tief im Sand gelegen hatte, den er nun als Keller benutzte, von dem niemand wusste, auch Mandy nicht (naja, vielleicht doch, sie war ja, wie gesagt, nicht dumm).
Die so aus originalen und neuen Brettern, Fenstern und Türen neu entstandene „Sandkiste“war nicht schick, sie war nicht fancy, vor allem war sie nicht mondän – sie war einfach nur die „Sandkiste“. Die lebte gut vor allem vom Charme und Witz ihres Besitzers und den diversen Tees, die er aus allen Anbaugebieten der Welt bezog, und die er selbst in einem kleinen Anbau zu den von seinen Gästen geliebten Köstlichkeiten mischte. Wer wollte, bekam auch auf Rügen gerösteten Kaffee in diversen Sorten.
Die „Sandkiste“ war offiziell von Mitte Oktober bis Ende April geschlossen – außer es war Weihnachten, Sylvester oder Ostern oder kein Feiertag aber extrem schönes Wetter, denn dann strömten sogar die Stralsunder auf die Insel, um mal nachzusehen, was die Touristen an schönen Flecken noch für sie hinterlassen hatten. In diesen Monaten nahm Kalle alle notwendigen Reparaturarbeiten mit vielen kommunikativen Pausen persönlich vor.
So eine Bretterbude in den Stranddünen – das war die „Sandkiste“ schließlich – und vor allem die große Holzterrasse mit ihrem Unterbau aus in den Boden gerammten Pfählen war im Winter sogar an der Ostsee Wetterunbilden ausgesetzt, die auch schon mal mit Hochwassern einher gingen, die am Unterbau der Terrasse nagten – und im Sommer durfte man die Wirkung der Sonnenstrahlen nicht unterschätzen!
Also gab es viel zu tun. Kalle fand das eigentlich gut, er arbeitete gerne körperlich. Dabei hätte er es sich leisten können, alle Arbeiten von Handwerkern der Insel ausführen zu lassen, aber er wollte es lieber selbst machen.
Bei sonnigem Strandwinterwetter konnten Strandläufer allerdings auch im frühen Frühjahr Glück haben, und Kalles „Sandkiste“ als Belohnungshäuschen anlaufen. Wenn er viel Lust hatte und gut drauf war, öffnete er die Bude für einige Sonnenstunden und stellte vor der Bude ein oder zwei Tische und Stühle auf. Es gab alles, was das Herz des Strandwanderers begehrte. Er hatte sogar ein Schild gemalt: „Tee pur, Tee mit Schuss, Kaffee pur, Kaffee mit Schuss oder Schuss pur... Alles auch vegan!“. Wer etwas anderes wollte, hatte eben Pech gehabt. Da ließ er nicht mit sich reden. Kinder, und nur die, konnten – wenn sie sich benahmen – eine Fanta (ohne Schuss) haben.
Die Bude war außen weiß und innen blutrot gestrichen (Kalle holte die „richtige“ Farbe aus Norwegen). Innen bot die „Sandkiste“ Platz für einen einfachen Tresen für sechs Barhocker und sechs Tische mit jeweils vier Stühlen. Neben der Holzerrasse gab es noch einen Außenbereich, der direkt an der Hütte mit diesen typischen DDR-Wege-Betonplatten belegt, und vom Wind immer mit einer dicken oder dünnen Schicht weichen Sandes bedeckt war. Aus der Dicke der Sandschicht konnten Kenner auf die Windstärke schließen. Fegen fand Mandy meistens nutzlos.
Gegen den Wind mehr oder weniger gut geschützt saß man auf der Holzterrasse hinter (unten) Holz- und (oben) Glaswänden, die einen ständigen Kampf gegen den vom Wind verfrachteten Sand kämpften, oder in einigen kuscheligen Strandkörben, die man nicht im Voraus reservieren konnte – „Nee, so geiht dat nich, first come, first seat“, lachte Mandy bei Reservierungswünschen.
Kalles Strandkörbe waren – natürlich – Ruganer Sonderanfertigungen nach Zeichnungen, die ein befreundeter schwedischer Strandkorbdesigner für drei maximal leicht dicke oder für vier dünne Gäste exklusiv für Kalle entworfen hatte, und mit denen Kalle 2016 einen in der Szene viel beachteten internationalen Strandkorbpreis gewonnen hatte.
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