Eine Märtyrerin, dachte Artemisia und flüsterte das Wort vor sich hin.
Sie hatte all dies Getratsche und Geratsche zu Hause mit angehört. Es klang ihr wie eine spannende Räuberpistole und begriffen hatte sie vor allem eins: dass einer jungen Frau, die sich gegen einen Tyrannen gewehrt hatte, Unrecht geschehen sollte. Schreiendes Unrecht , hatte ihre Großmutter gesagt.
Die Stimmung war aufgeheizt schon seit Tagen. Und jetzt hatte sich der Menge vor dem Schafott und auf der Brücke eine vibrierende Unruhe bemächtigt. Lärm und Geschrei erfüllten die Luft. Und je weiter der Tag voranschritt, desto heißer wurde es.
Die Zeit kroch dahin.
Artemisia versuchte, ihren Vater in der immer noch anwachsenden Menge zu entdecken. Die breiten Federhüte der Männer wogten, es war unmöglich.
Die Frauen fingen an, sich über Preissteigerungen und die Lebensmittelpreise im Allgemeinen zu unterhalten. Artemisia ging vor lauter Langeweile pinkeln. Gegen Mittag traf die Prozession an der Engelsbrücke ein. Jetzt drängten sich an allen Fenster, in den Loggien und auf den Dächern, in den Vorbauten und Türmen der Burg die Zuschauer, aus Westen und Süden strömten sie nach, auf der gegenüberliegenden Tiberseite waren die Straßen von Menschen und Kutschen verstopft.
Plötzlich legte sich der Lärm. Vom Ende der Prozession her war Gesang zu hören.
Direkt hinter einem großen Kruzifix ging eine schlanke junge Frau, die Hauptdarstellerin dieser monströsen Inszenierung, die Papst Clemens VIII. zu Nutz und Frommen seiner Untertanen befohlen hatte. Neben ihr ging eine ältere, korpulente Frau, Lucrezia Paltroni, ihre Stiefmutter.
„Ist sie das?“, fragte Artemisia. „Die junge?“
„Ja“, sagte Prudenzia. Die beiden Frauen trugen weite dunkle Mäntel. Ihre Arme waren an den Körper gebunden, doch konnten sie kleine Kruzifixe halten und Taschentücher.
Gleich hinter ihnen rumpelten Eselskarren Giacomo und der erst siebzehnjährige Bernardo. Giacomo, ein kräftig gebauter Mann von etwa dreißig Jahren, den Oberkörper nackt, wurde von einem Henkersknecht mit der Zange malträtiert, die Haut hing ihm vom Leib. Eine Gestalt, gehüllt in ein knöchellanges schwarzes Gewand, eine Kapuze über dem Kopf und eine Maske vorm Gesicht, hielt ihm ein Täfelchen vor die Nase.
„Einer von der Bruderschaft der Misericordia “, flüsterte Artemisias Großmutter. „Er wird Trostspender genannt.“
Bernardo war allein auf seinem Karren.
„Er ist begnadigt!“, rief die Hausfrau. „Dem Himmel sei Dank!“
Und alle bekreuzigten sich.
Hinter den Karren schritten gravitätisch wie Friedhofskrähen die bärtigen Herren des Hohen Gerichts, ihnen folgten Abordnungen verschiedener Orden. Sbirren hielten die Straße frei und bahnten der Prozession ihren Weg. Immer mehr Volk drängte nach. Hin und wieder fiel jemand um und wurde davongetragen.
Wind war aufgekommen, wüstenwarmer Scirocco, und wehte den Gesang der Litaneien die Häuser hinauf und über den Fluss. Als die Spitze des Zuges das Schafott erreicht hatte, kam die Prozession zum Stehen. Die Delinquenten verschwanden in der kleinen Kapelle am Brückeneingang.
„Wo gehen sie hin?“, fragte Artemisia enttäuscht.
„Sie dürfen noch einmal zum Herrgott und der Jungfrau Maria beten“, sagte Prudenzia, „dass sie ihnen Stärke verleihen. Das wird sicher etwas dauern.“
Die Luft vibrierte. Sie war wieder von Geschrei erfüllt.
Man setzte sich in der Küche zum Essen zusammen. Jeder hatte etwas mitgebracht. Man aß und trank und ratschte, bis draußen wieder Stille eintrat. Alle stürzten an die Fenster.
Der Scharfrichter und seine Gehilfen hatten das Schafott betreten. Das Hohe Gericht nahm auf Stühlen Platz.
Ein Aufschrei ging durch die Menge, als Bernardo das Schafott bestieg. Ihm folgte seine Stiefmutter, die man halb hinaufschob..
Dem Jungen wurde ein Platz auf einem der Stühle zugewiesen. Er musste den Hinrichtungen offensichtlich zusehen. Das schien seine Strafe zu sein.
Artemisia hielt den Atem an.
Lucrezia wankte und schien ohnmächtig zu werden. Zwei Sbirren fingen sie auf und schleiften sie auf die Richtbank. Das Beil fiel. Lautes Geheul stieg aus der Menge auf. Dann kam Beatrice. Bernardo war in sich zusammengesunken.
Warum läuft sie nicht weg?, dachte Artemisia. Sie könnte sich in der Menge verstecken. Alle würden sie doch schützen und niemand sie verraten!
Aber Beatrice ging stolz und aufrecht.
„Beatrice!“, rief eine Männerstimme.
„Beatrice! Beatrice!“, schlossen sich andere an.
„Beatrice“, murmelte Artemisia. Und plötzlich wurde ihr das Herz eng.
Die junge Frau erklomm das Gerüst und trat vor den Richtblock, machte Hals und Brust frei und legte mit geradezu eleganter Geste ihren Kopf auf den Block,. Ihr langes Haar floss über den Richtblock. Der Scharfrichter hob das Beil, es blinkte grell in der Sonne, und einen schmerzhaften Augenblick lang dachte Artemisia, ein Blitz vom Himmel her würde allem ein Ende machen. Aber das Beil fiel.
Ein Aufschrei der Menge zerriss die schwüle Luft. Der Scirocco trug ihn mit sich fort, Richtung Peterskirche, der Schrei schien sich zu vervielfachen, als echote ihm der Himmel.
Prudenzia hatte den Arm um Artemisia gelegt.
„Es ist ein Skandal“, flüsterte Artemisias Großmutter. „Es bleibt ein Skandal und es wird ein Skandal für alle Zeiten sein.“
Jetzt bestieg Giacomo das Podest. Er wurde nicht mit dem Beil hingerichtet wie die Frauen. Der Scharfrichter schlug ihm so lange mit einer Keule auf den Kopf, bis er tot war. Dann wurde sein Körper in vier Stücke zerhauen, die an Fleischerhaken aufgespießt wurden. Dort blieben sie hängen bis in den späten Abend.
Auch die Leichen der Frauen wurden öffentlich ausgestellt. In einem Zug, der ebenfalls bis in den Abend dauerte, defilierten die Leute trauernd an ihnen vorbei.
Die Großmutter hatte sich mit Artemisia eingereiht, Prudenzia war nach Hause gegangen, um sich um die Jungen zu kümmern, die sie bei einer uralten Nachbarin abgegeben hatte.
Artemisia war stolz darauf, von Beatrice Abschied nehmen zu dürfen. Sie sah sich um, ob da irgendwelche Freundinnen aus der Nachbarschaft wären. Aber sie sah keine. Was würde sie zu erzählen haben! Das hatte sie allen andern Kindern voraus!
Als sie endlich vor dem Blutgerüst angelangt waren, war Beatrices Leiche bereits mit Blumen bedeckt und Artemisia tat es leid, dass sie keine dabei hatte. Die Großmutter neigte den Kopf, Artemisias tat es ihr nach, aber mit halben Augen sah sie doch auf die Leiche.
So will ich werden, dachte Artemisia. So schön und so tapfer.
Sie war beim Tod einer Heldin und Märtyrerin dabei gewesen. Beatrice hatte, das wusste sie, das Böse bekämpft und besiegt. Ihr war Unrecht geschehen.
4. Wie Artemisia den Rauch sah, aber nicht das Feuer
An diesem Morgen stahl sich Artemisia frühmorgens aus dem Haus. Sie fühlte sich überflüssig. Prudenzia hatte genug mit den Jungen zu tun, vor allem mit Giulio, der ein paar Tage nach Beatrice Cencis Hinrichtung zur Welt gekommen war. Im Übrigen fand Artemisia es ein bisschen langweilig, immer bloß neue Brüder und nie eine Schwester zu bekommen.
Es war der 17.Februar 1600, ein Donnerstag.
Die Familie wohnte mittlerweile in der Via Paolina, Ecke Via dei Greci, und Artemisia lief die Via dei Greci hinunter, vorbei am Laden des Kerzenmachers und des Schweinemetzgers, dann links in den Corso mit seinen Kneipen, Tavernen und Geschäften. Sie war inzwischen ein dünnes, spinnenbeiniges Mädchen, das schnell rennen konnte.
Ein paar Fuhrwerke rasselten und knirschten, die meisten kamen von Norden, aus den Sabiner Bergen. Gruppen von Pilgern waren unterwegs, die zum Heiligen Jahr 1600 die Hauptkirchen abklapperten (wie Orazio das nannte), auf dem Weg zu den Hauptkirchen Santa Maria Maggiore und San Giovanni in Laterano. Es waren in diesem Jahr sehr viel mehr als in gewöhnlichen Jahren. Dazwischen Leute vom Land, die Artemisia an ihren bloßen Füßen erkannte, Frauen mit Körben und die unvermeidlichen Bettler.
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