Es war zu erwarten, dass er sie nicht ausreden lässt.
»Deine Großmutter ist …«
Wenn sie bei keiner anderen Nachricht so aufgeschreckt zuhören würde, bei Großmutter immer. Wenn sie an niemanden eine innige Bindung hat, nicht einmal an ihre Eltern, für Oma Frieda empfindet sie eine ganz gewisse Zuneigung, eine, die das Herz betrifft. Dafür, dass es um Oma geht, hört sich Vaters Stimme nicht wirklich gut an.
»Sag jetzt nichts …Sag nichts Papa!«
»Dann komm nach Hause.« Rita kennt ihren Vater und sie kennt die Art, seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben.
Es ist, als stellt sie fest und fragt zugleich: »Sie ist gestorben ...?«,
aber Rainer Georgi scheint nur eine Frage herausgehört zu haben.
»Ja.« Sein Atem geht kurz, wie es immer ist, wenn er die Nerven für das, was man ihm zumutet, nicht aufbringt.
Erst als sie die Treppe herunter saust, der Sekretärin ein paar Worte zuruft, spürt sie, wie das kleine Wörtchen Tod zu etwas Greifbarem wird, etwas, das sie selbst betrifft, über das sie nicht nur in einem – wenn auch hoch gelobten - Artikel zu berichten hat, den man verändern kann, umschreiben, anpassen, redigieren, bis er die gewünschte Dimension annimmt.
Zu Hause sitzen sie eine ganze Weile einfach da, keiner sagt etwas, jeder wartet auf den letzten Trost, den es noch geben kann. Doch der Tod gewährt keinen Trost. Das Warten verändert sich nach einiger Zeit. Warum bleibt das Entsetzen aus, denkt Rita. Warum der lähmende Schreck, der immer kommt, wenn man dem Tod gegenübersteht.
Ihr Vater streckt die Hand nach ihr aus, drückt sie und versucht mit einem Lächeln die Unruhe aus ihrem Blick zu vertreiben. Das Gefühl der Schuld kann er nicht vertreiben. Ja, Mama hat Recht, sie war schon seit einiger Zeit nicht mehr in Alt Zechau bei Oma Frieda gewesen. Unverzeihlich. Alles was ihr an Zeit zur Verfügung stand, hatte sie in diesen verflixten Roman gesteckt – und nun?
Sie kann sich jetzt gar nicht mehr über ihren Erfolg freuen, kann nicht einmal ihre Eltern an ihrem Erfolg teilhaben lassen, von dem bislang beide keinen Schimmer haben. Irgendwann begreift sie, dass es die Mutter ist, die jetzt am meisten Zuwendung braucht. Frieda war die Mutter von Mama Helga, und Helga Georgi war diejenige, die in letzter Zeit am meisten für Frieda gesorgt hat.
Auch wenn sie keine besondere Innigkeit verbindet, spürt sie doch eine zwingende Verantwortung für ihre Mutter. Davon kann und will sie sich nicht frei machen.
»Es tut mir leid, Mama«, sagt sie wenigstens. »Ja, ich war so lange nicht bei Oma, aber das hatte einen ganz besonderen Grund. Einen, den ich euch noch nicht gesagt habe, den ihr aber wissen solltet.«
»Wie kannst du annehmen, dass wir jetzt über deine Probleme reden wollen?«
Der Zorn, der aus Mutters Stimme zu hören ist, der ihre Trauer für einen Moment überlagert, ist nichts als gerecht, aber diese Erkenntnis bringt Rita nicht weiter.
»Ja, es ist ein falscher Moment. Aber gibt es je einen richtigen? Ich will euch gar nicht mit meinem Problem belasten, und Oma kann es auch nicht mehr lebendig machen.« Sie schnäuzt sich und ringt nach Luft. »Aber wenn es euch schon nicht freut, Oma hat es sehr gefreut zu hören, dass ich …«
Sie hört auf zu reden. Tief in sich spürt sie, dass Mutter Recht hat und dann auch wieder nicht. Warum hat sie denn ihren Eltern nicht erzählt, dass sie in all den Nächten einen Roman geschrieben hat. Sollen sie es hören, jetzt, und nicht erst, wenn er gedruckt vor ihnen liegt. Das wird in Kürze so sein. Sie weiß nicht einmal, ob ihre Eltern lesen würden, was sie geschrieben hat. Sie kann sich aber gut vorstellen, dass sie in diesem Fall die Probleme der Stadt erkennen würden, die sie in der Handlung verarbeitet hat, weil die überall und auch in ihrem Elternhaus auf arge Kritik gestoßen sind.
Warum hat sie nur ihrer Großmutter davon erzählt?
Das Familienleben war generell aus dem Gleichgewicht geraten. Zuerst nur unmerklich, aber dann wurde die Kluft zwischen ihr und ihren Eltern immer tiefer. Der Grund ist nichts als fehlendes Vertrauen.
Rita hat die Stille, die sich langsam im Hause Georgi breitgemacht hat, zumeist sogar genossen. Und mit der Stille sind nicht die hörbaren Töne gemeint; der Wert der Worte ist gemeint.
Es ist ihr bisher lieber gewesen, sie schweigen sich an, als dass sie aus lauter Unkenntnis übereinander nur schlechte Luft ablassen.
Mit Oma Frieda war das immer anders gewesen. Auch mit ihr saß sie lange schweigend zusammen. Das war eine vertraute Stille, weil Worte nicht nötig waren. Wie lange ist es her, dass sie das letzte Mal …?
Wie viele Monate?
Erst, als sie in die Endphase ihres Romans gekommen war, blieben schließlich ihre Besuche im entfernten Alt Zechau aus. Zugegeben, es waren keine sehr langen Besuche, aber jeder einzelne war von großer Herzlichkeit getragen.
Die Beerdigung verläuft so bescheiden, dass es beinahe beschämend ist. Im Dorf weiß an diesem Tag kaum jemand etwas vom Beerdigungstermin der Frieda Körber. Rita weiß nicht, ob ihre Mutter nur kein großes Wesen darum machen wollte, oder ob sie schlicht überfordert ist. Sie muss es so nehmen, wie es ist. Aber es ist umso bedrückender, wenn nur wenige Augenpaare in das offene Grab blicken, wenn nur wenige Herzen in dumpfer Bedrückung ihren Schmerz verbergen, ihre Tränen tapfer zurückhalten. Was ihren Vater betrifft, der wäre sofort nach der Grabrede gegangen, doch das lassen die beiden Frauen nicht zu, zumal sich am Friedhofstor doch ein paar Leute eingefunden haben, denen die Hand nicht ausgeschlagen wird, wie Mutter streng entscheidet, sie ist schließlich eine von hier.
Rita streut als Letzte eine Hand voll Erde auf den Sarg, auf dem ein Bukett aus weißen Rosen liegt, das sie selbst im Blumengeschäft am Hochhaus bestellt hatte.
Sie tritt dann als Letzte durch das Friedhofstor wieder hinaus auf die Straße zwischen Alt Zechau und Vorwerk. Sie kennt die Leute nicht, die ihrer Mutter still die Hände schütteln, die mit ihr tuscheln, als schämten sie sich, nicht im ordentlichen Geleit geschritten zu sein. Die alten Frauen ziehen ihre Kopftücher tief in die Stirn und vor Ritas geistigem Auge entsteht das Bild ihrer Oma, die sommers wie winters ein solches Kopftuch getragen hat, das zu beiden Seiten steif über das Gesicht hinaus ragte, das breit und faltig auf den Schultern stauchte und dessen Zipfel tief in den Rücken hinunter ragte. Sobald Oma den Fuß aus der Tür setzte, warf sie das Tuch über den Kopf, das ihr grau meliertes Haar verbarg, um dessen kräftige Struktur Rita sie beneidete.
Sie trägt ihre alte Heliomatik-Brille, weil die auch ohne Sonnenschein bei hellem Tageslicht eine beträchtliche Färbung aufweist. So lassen sich ihre Tränen gut verbergen. Sie schämt sich nicht dafür. Sie schämt sich für sich selbst, schließlich hat sie aus purem Eigennutz ihre Lieblings-Oma ein paar Monate lang vernachlässigt.
Zum Glück muss sie niemandem die Hand drücken, man scheint sie gar nicht mehr zu kennen.
Erst später, als sie zu dritt auf dem Hof der Großmutter stehen, schaut Rainer Georgi seine beiden Frauen an und sieht, in welch jämmerlichem Zustand Rita ist. Schon hebt er seinen Arm, um sie liebevoll wie früher zu umfassen, als sie noch sein kleines Mädchen war, doch aus unerklärlichem Grund zieht er den Arm wieder zurück und fragt nur: »Alles in Ordnung?«
Ihm muss sie verzeihen, wenn er das fragt. Bei ihm ist wohl alles in Ordnung. Er hatte keine besondere Beziehung zu Oma Frieda gehabt und solange seine eigene Mutter noch lebte, war er damit beschäftigt, seinen Anteil an Verantwortung dorthin zu investieren.
»Ich glaub nicht«, sagt sie trocken und denkt zugleich, dass in letzter Zeit nichts mehr in Ordnung ist in ihrem Leben. Auch wenn ihr der Tod der Großmutter eine innere Leere beschert, weil er so unverhofft über sie gekommen ist, beginnt sie das erste Mal am Wert einer Familie zu zweifeln. Auch wenn sich alle bemühen, möglichst traurig auszusehen, weiß sie doch, dass von ihnen eine Last genommen wurde. Von ihr indes ist keine Last abgefallen. Die Last des Gewissens wiegt doppelt schwer, wenn man nicht alles gegeben hat, was ein alter Mensch braucht. Würde. Zuwendung. Und in gewisser Weise auch Liebe.
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