Von dem Gespräch mit Heidenreich bleibt kaum etwas Wesentliches in ihrem Gedächtnis. Das liegt weder an ihr noch an Heidenreich, das liegt an Nils Hegau. Heidenreich hat sich gleichgültig gegeben. Er tat so, als habe er mehr gute Leute in petto, als er brauchen kann. Er hat sich gewunden, wie ein getretener Wurm, und hat dann jenen Satz gesagt, der ihre Alarmglocken hat schrillen lassen.
Ihr Weggang sei eben nur ein denkbar schlechtes Timing , weil doch der Hegau zur Therapie sei und weil man neue Leute erst einarbeiten müsse. Aber er akzeptiere ihre Entscheidung und er weine schließlich niemandem eine einzige Träne nach.
Freilich war in Heidenreichs Worten die Absicht versteckt, an ihr Einsehen zu appellieren, freiwillig abzuwarten, bis Nils Hegau wieder gesund ist. Aber dazu hätte er wenigstens ein Zeitfenster umreißen müssen. Das hat Heidenreich nicht gemacht.
Leise Wut kocht in Rita hoch, weil sie diesem Hegau in die Falle gegangen ist. Angst hat sie vor ihm nicht. Es besteht auch kein Anlass mehr, denn in zwei Wochen ist sie weg - wenn auch nicht aus der Welt. Immerhin ist die Stadt überschaubar und die Verhältnisse im Spree-Rundschau-Verlag kennt sie nicht so gut, um sich vor ihm absolut sicher zu fühlen.
Wenn sie nur wüsste, was das für eine Therapie ist und warum Nils sie grundlos angelogen hat? Er müsse nach Wuppertal. Wieso sollten ihn seine Schwiegereltern so lange brauchen? Und dann fällt es ihr ein. Sie hatte doch tatsächlich schon vor einiger Zeit Nils Hegaus Frau Alice beim Frisör gesehen. Warum sollte er in Wuppertal bei ihren Eltern sein und sie ist hier?
Rita beißt die Lippen zusammen. Warum, verdammt, bin ich nicht aufmerksamer? Eine gute Journalistin wäre längst auf schlechte Ideen gekommen.
Das sagt ihre Freundin Janina immer. Rita weiß, Jani wäre unter diesen Umständen in Rachegelüste verfallen. Aber Rita weiß auch mit unerschütterlicher Sicherheit, dass sie mit ihrer Konsequenz am Ende gewinnen wird, weil das Leben bisher gerecht mit ihr gewesen ist. Im Moment sieht alles danach aus, dass ihr Leben gerade auf die Überholspur lenkt. Sie wird einen Teufel tun, wegen eines menschlichen Fehlers den Kopf in den Sand zu stecken. Sie wird auch den Teufel tun, wegen Nils Hegaus Krankheit weiterhin beim «Wochen-Boten» so dahin zu zuckeln. Für sie bringt auch niemand ein Opfer.
Bis Rita Georgi ihren letzten Arbeitstag in Heidenreichs Verlag absolviert, ruft Nils Hegau noch dreimal an, aber Rita hat sich die Nummer notiert, vermutlich eine von der Heilanstalt. Jetzt erkennt sie sofort, als sein Anruf kommt. Sie täuscht eine Störung vor. Beim dritten Mal nimmt sie den Hörer gar nicht mehr von der Station.
Die Distanz von ihrer Wohnung in der City bis zum Spree-Rundschau-Verlag ist etwas größer, als ihr Dienstweg bisher war, dafür aber wird sie nicht so oft in dem großen Haus herumsitzen, wie es im kleinen Haus bisher der Fall war. Sie hat zwar ein Auto, aber sie nimmt sich vor, täglich die Strecke mit dem Fahrrad zu fahren, das hilft der Umwelt und erspart den leidigen Kampf um die Parkplätze. Noch spielt das Wetter mit, aber es ist zu erwarten, dass es bald gefährlich glatt wird.
Rita hat bei ihren Eltern in der Stadtmitte ihr eigenes Zimmer, aber morgens gibt es meistens Stress. Jeder möchte sofort nach dem Aufstehen zur Toilette gehen und ausgiebig das Bad benutzen. Es gibt auch die angenehme Seite. Sie wird noch umsorgt. Zu den verdammt unangenehmen Seiten zählt, dass sie wichtige Dinge zuweilen nicht wiederfindet, weil ihre Mutter einen Räumfimmel hat. Besonders bei solchen Dingen, die sie nicht in ihrem Zimmer aufbewahrt, wie Schuhe, Schirme, Körperpflegemittel. Das mag zum Mutterinstinkt gehören, den sie nicht – noch nicht – einschätzen kann, der sie nur nervt und von dem sie felsenfest überzeugt ist, ihn einmal selbst nicht zu bekommen.
Eigentlich beginnt ihre Dienstzeit gegen neun Uhr. Beim «Wochen-Boten» hat sie zumeist vorzeitig an ihrem Arbeitsplatz gesessen, aber jetzt traut sie sich nicht, in aller Herrgottsfrühe beim Rundschau-Verlag aufzukreuzen und womöglich als Streberseele zu gelten. Und ob sie abends länger bleiben kann, das wird sie später sehen. Es muss sich so vieles ändern in ihrem Leben, aber dafür braucht man die nötige Ruhe und einen klaren Verstand, der in letzter Zeit irgendwie aus dem Tritt gekommen ist. Das liegt beileibe nicht nur an der freudigen Aufregung darüber, dass sie mit ihrem Manuskript bei einem renommierten Verlag untergekommen ist. Beileibe nicht.
Der Herbstmorgen liegt grau über der Stadt – nur östlich ein heller Streifen am Horizont. Sonne wird es aber nicht geben an diesem Novembertag. Sie mag die Silhouette der Altstadt, die gemütlich, aber nicht außergewöhnlich imposant ist. Nur die alten Türme der mittelalterlichen Stadtmauer und die drei Kirchen erheben sich majestätisch über die roten Ziegeldächer. Dieser Anblick trägt das Gefühl von Heimat in Ritas Herz. An diesem Gefühl soll sich nichts ändern. Was genau soll sich an ihrem Leben ändern?
Zuerst müsste sie mal was für ihr Gemüt tun. Eine neue Frisur, ein schönes Kostüm. Immer nur in Jeans, das passt nicht zu jedem Anlass. In Zukunft wird sie in der ganzen Region unterwegs sein. Vielleicht sollte sie über eine eigene Wohnung nachdenken?
Energisch schiebt sie den Gurt ihrer Stofftasche über die linke Schulter. Ihr forscher Schritt verrät, wie viel neue Tatkraft in ihr steckt. Schade, sie hätte doch das Fahrrad nehmen sollen, aber heute gibt es einen Grund, aufgeräumt auszusehen, wenn sie im Verlag erscheint. Gerade fährt heftig klingelnd eine Straßenbahn an der Haltestelle Mitte ein, und Rita erinnert sich noch an die Zeit, als der Betonbogen der Fußgängerbrücke den grünen Platz überspannte.
Als sie noch Kind war, lief sie manchmal quer durch die kunstvoll angelegten Blumenrabatten, um den Weg über die Brücke abzukürzen. Wo gibt es heute noch prächtige Blumenrabatten? Kaum eine Stadt kann sich den Luxus gepflegter Innenstadtparks noch leisten. Armes Deutschland.
Sie wirft ihren Kopf in den Nacken und läuft eilig weiter. Hoch über ihr ein Krächzen. Dunkel und drohend kreisen Hunderte von Raben.
Rabenland ist abgebrannt – unser alter Kinderreim. Rabenland ist überall. Rabenland herrscht in der Gesellschaft, in der Familie, unter vermeintlichen Freunden. Auch heute. Wahrscheinlich gehört es zu dieser Welt, gestern wie heute. Nils Hegau muss im Rabenland leben.
Manchmal macht es sie wütend, wenn sie ganz unverhofft an ihn denkt. Sie ist noch jung, möchte leben, möchte lieben, im Taumel der Zeit schwelgen und aus dem Vollen schöpfen. Mit Mark Hellmann wäre ihr das Dilemma vermutlich nicht passiert. Mark ist ein toller Kumpel.
Die Raben drehen ab. Sie sind nur lästig, weil es so viele sind, denkt sie. Geh deinen Weg allein, Rita Georgi.
Sie verscheucht die lästigen Gedanken an Nils Hegau. Es darf kein Problem daraus entstehen. Klar hat sie selbst einen unverzeihlichen Fehler begangen. Sie hätte ihrem gesunden Menschenverstand folgen und seinem Scharm widerstehen sollen. Hätte er je die kleinste Andeutung gemacht, sie wäre wahrscheinlich gewarnt gewesen. Bei Mark Hellmann war sie immer gewarnt und sie hat sich mit viel Witz davor gefeit, ihren besten Freund nicht auf diese Art und Weise zu verlieren.
Klar weiß sie, dass alles, was sie jetzt denkt, Selbstbetrug ist. Nils war bis zu diesem bewussten Abend kein Thema für sie, über das man nachdenken musste. Außer seinen ätzenden Chef-Allüren, die wahrscheinlich jeder Boss einmal hat, gabt es in der Tat keinen Grund, warum sie ihm hätte aus dem Wege gehen sollen. Und der erste Abend mit ihm war echt toll.
Noch eine Runde dreht die Rabenschar über dem Hochhaus, dreht dann wie auf Kommando nach Südwesten ab. Patsch. Das hat ihr gerade noch gefehlt. Gerade heute. Warum zum Teufel steht sie immer am falschen Platz!
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