Momente, wo man ihre Natürlichkeit lobt, ihre Bescheidenheit und ihre Offenherzigkeit. Im Nu ist ihre ungeschminkte Welt wieder in Ordnung.
Die Leidenschaft ihres zweiten Lebens packt sie an diesem Herbstabend schon seit einiger Zeit. Der Kopf ist bereit, nur die Umstände sind es noch nicht. Ein Code schützt aus gutem Grund den wertvollen Text vor unliebsamen Konsequenzen.
Wissen darf ihr Redaktionsleiter nicht, was sie so lange im Büro treibt. Er hätte längst die Dateien ausspähen lassen und wer weiß, was schon passiert wäre.
Nils Hegau schreibt sehr gute Kolumnen. Stets hält er sich kurz und präzise, wenn auch verdammt ketzerisch, wie es seine Lebensart ist. Irgendwann einmal hat er zu Rita gesagt: Wer mehr als zehn Sätze zu einer einzigen Begebenheit formuliert, ist zwanghaft mitteilungsbedürftig und gehört nicht in diese Redaktion.
Genaugenommen ist es ja auch keine Zeitung, für die sie arbeitet. Genaugenommen ist es ein widerliches, mit schlecht gemachten Inseraten vollgestopftes Anzeigenblatt in einer Stadt, in der scheinbar gar nichts passiert. Ausnahmen bilden offenbar nur die zahlenden Werbekunden. Daran ist Nils Hegau nicht schuld. Das ist Heidenreichs Konzept. Verleger Heidenreich ist besser als Hegau. Er kann fein geschliffen austeilen, was seine Anzeigenkunden zweifelsfrei bei der Stange hält. Wer möchte schon Seitenhiebe gegen sich oder gegen seine Firma in Heidenreichs «Wochen Bote» lesen?
Die Macht hat immer der, dem es gelingt, die Kleinen auch klein zu halten. Die Großen meiden das Käseblättchen.
Warum soll sie lamentieren? Auch sie lebt von den Werbekunden, aber glücklich macht sie diese Arbeit nicht.
Ihre Themen sind profane Ereignisse rund um die Kleinunternehmen. Nichts Aufregendes: Geschäftseröffnungen, Firmenjubiläen, Tage der offenen Türen …
Rita hatte sich nach ihrem Volontariat von Heidenreichs Begeisterung anstecken lassen, und heute wechselt sie flugs das Thema, wenn der Chef verächtlich über das führende Blatt der Region redet, das nur deshalb noch am Leben sei, weil ein westdeutscher Konzern dahinterstehe. Wäre sie gleich dorthin gegangen, sähe es mit ihrem Berufsenthusiasmus ganz anders aus.
Noch hält sie still. Sie lässt Heidenreich seinen großen Feind. Jeder Mensch braucht seinen Feind, den er in seinen Träumen umbringen kann. Ohne Feindbild verliert man das heimliche Ziel, es eines Tages allen zu zeigen.
Rita ist tolerant, bleibt gelassen und wartet auf den Moment, wo ein Platz im großen Verlagshaus der «Spree-Rundschau» frei wird. Dafür sorgt gerade ihr guter Freund Mark Hellmann. Wozu hat man Freunde.
Bis dahin stutzt sie ihre Beiträge buchstabengenau auf den im Satzspiegel vorgegebenen Platz und sie ordnet sich ein im weiten Feld des Anzeigenfriedhofs.
Es macht ihr momentan auch nicht so wahnsinnig viel aus, genaugenommen könnte sie es als Glücksumstand betrachten. Nirgendwo sonst hätte sie die Gelegenheit, nebenbei an einem Roman zu schreiben. Jetzt hat sie Spaß daran, über ihre Themen so nuanciert zu schreiben, wie die Dinge wirklich sind – nicht reduziert auf eine nüchterne Kernaussage, nicht lobhudelnd auf die Steigeisenhalter der Seilschaften und noch weniger mit verklemmter Zunge.
Inzwischen, seit ihr Erstlingswerk dem Ende zustrebt, ist sie geradezu versessen auf das heimliche Schreiben, auch wenn ihre Mutter hinter ihrer nächtlichen Abwesenheit nichts als Herumtreiberei vermutet.
Der Zugangs-Code ist gesetzt, die Datei öffnet sich und auf dem kleinen Button in der Taskleiste sieht sie, wie der Stift über die Buchseiten flitzt und wie er sich Seite für Seite bis zur Nr. 341 vorarbeitet.
Noch ehe Rita einen Finger auf die erste Taste setzen kann, noch ehe sie den ersten Satz in ihrem Kopf ausformuliert hat, hört sie ein Geräusch. Rita lauscht angestrengt. Heute scheint das Haus noch nicht leer zu sein, wie gewöhnlich zu dieser Zeit. Gut ist das nicht.
In der letzten Nacht war ihr eine Formulierung eingefallen, die wie ein Hammerschlag das beschämende Geschehen in ihrem Roman in jene dunklen Farben färbt, die dem Geschehen zustehen. Sie darf diesen Satz nicht vergessen.
Jemand kommt die Holztreppe herauf gespurtet und reißt die Tür zum Redaktionszimmer auf. Nils Hegau, der Redaktionsleiter.
»Ich dachte, du bist schon weg …«, stammelt er.
Er habe noch Licht gesehen und geglaubt, sie hätte vergessen, es auszuschalten.
»Ich bin noch nicht senil, Nils Hegau«, sagt sie ebenso irritiert, wie Hegau zu sein scheint. Und weil er nichts erwidert, schiebt sie schnell noch ein paar Worte nach, nur um ihn davon abzuhalten, einen Schritt näher zu kommen. Er würde entsetzt auf ihren Bildschirm glotzen. »Warum sollte ich schon weg sein? Ich hab weder Kind noch Kegel wie du, und wenn ich Hunger habe, dann geh ich runter zu Beppo und hol mir passend zu meinem Arbeitsplatz `ne Bratwurst oder ein Käsebrot.«
Sie ist nicht die Einzige, die manchmal Wurstblatt sagt oder Käseblättchen. Es gibt auch andere Stimmen ohne böse Absicht. Eigentlich meint es niemand böse. Eigentlich sind sie alle sogar eine verschworene Gemeinschaft, die Anrainer in dieser Straße, zu der die kleine Passage gehört, wo auch Beppo sein Bistro «Oberdeck» betreibt. Freilich liegt dieser scheinbare Zusammenhalt an Heidenreich. Wer sonst könnte diesen Sog erzeugen – indirekt, aber wirkungsvoll – sich vereint zu zeigen gegen alle Kritiker.
Wie Nils Hegau so im Halbdunkel des Raumes im Türrahmen steht, fast verlegen und dennoch in lässiger Pose, muss sie ihn nicht mehr anschauen. Sie kennt jede Geste an ihm, jeden Blick und sogar den Takt seines Wimpernschlages könnte sie blind vorhersagen. Das verräterische Spiel seiner Spiegelneuronen hat sie ausgiebig studiert. Rita weiß längst, dass Nils Hegau kein Weiberheld ist, aber mit den Augen zieht er die Frauen komplett aus. Es gab durchaus schon Momente, da fand sie ihn verlockend. Doch einmal war das Wort gefallen, das sie angewidert hat: Kopulationsrückstau. Seinen zu verringern, will sie nicht mithelfen. Und heute schon gar nicht. Sie sitzt ja nicht von ungefähr noch in der Redaktion. Zu Hause ist nicht der rechte Ort für nächtliches Arbeiten. Außerdem hätte Mutter Helga keinen Grund mehr, ihre Tochter als Herumtreiberin zu bezeichnen. Rita grinst in sich hinein.
»He, bist du noch anwesend?«, hört sie Nils fragen.
Tatsächlich, sie hat ihn mental ignoriert, und sie ist ziemlich sicher, körperlich auch. Wenn sie ihn einmal nicht ignorieren sollte, dann, um seiner aufgebrezelten Madam zu beweisen, dass es bei einer Frau weder auf Make-up ankommt, noch auf Blondierungsmittel und Styling, wenn man einen Mann um den Verstand bringen will.
Warum ist sie in Anwesenheit eines solchen Mannes mental anderswo? Sie ist oft anderswo als ihr Körper. In letzter Zeit mehr als jemals zuvor.
Warum ist der Blödmann auch verheiratet? Warum sind Fred und Ralf und Lisa verheiratet. Die glauben doch nicht im Ernst, dass man heiratet, weil man sich liebt? Lieben kann man auch ohne Trauschein, aber umgekehrt ist es einfach saublöd. Ihr Herz ist viel zu empfindsam, um sich noch einmal richtig zu verlieben und irgendwann ernüchtert aus dem Traum zu erwachen: Schade … wir hätten es beide wissen müssen …nichts fürs Leben…- All diese saublöden Erklärungen gehen ihr durch den Kopf. Nie wieder will sie das hören.
Rita lächelt Nils an, schließt endlich die Datei und fährt den Rechner herunter, weil sie weiß, dieses Computer-Licht macht ihr Gesicht schrecklich fad. Sie gibt ihrer Stimme einen Hauch von Erotik und grinst ihn an:
»Was man sehen kann und anfassen - das hab ich jedenfalls in der Schule so gelernt - das ist auch anwesend.«
Warum soll sie sich nicht räkeln? Warum nicht lächeln? Er sieht gut aus, er hat Konnexion und der Abend ist für ihren ersten Roman ohnehin verdorben.
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