PS: Die überstürzte Flucht des Herr Carl in den Westen hat leider auch das Erscheinen eines schon lange geplanten, eines einmalig schönen, eines sensationellen Buches verhindert. Seit tausenden von vielen Jahren war der Deutsche Verlag für Musik Leipzig für seine Bücherreihe „für Sie porträtiert“ bekannt. Nachdem inzwischen Biografien unter anderem von Paul Dessau, Reiner Süss, Peter Schreier, Kurt Masur, Annerose Schmidt, Lieschen Müller und Freund Blase erschienen waren, wollte sich der Verlag nun endlich auch an etwas wirklich Großes heranwagen: Eine Biografie über Herrn Carl, genannt Carli. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, dann hätte das Buch zum Zeitpunkt von Carlis Flucht bereits in den Buchhandlungen gestanden. Allerdings war allen Beteiligten bewusst, dass es mit dem bei dieser Buchreihe üblichen Umfang von maximal siebzig Seiten bei Herrn Carl nicht getan war. Deshalb stritten sich Verleger, Autorenkollektiv und Papierindustrie noch, ob das Buch eintausend oder zweitausend Seiten umfassen sollte. Nachdem diese von den Fans lange ersehnte Herr-Carl-Biografie wegen der leidlichen Flucht nun ersatzlos gestrichen wurde, freute sich der Verlag Technik Berlin: Sein Papierkontingent wurde aufgestockt, und er durfte das nicht minder interessante und viel gesuchte Buch „Wie helfe ich mir selbst – Wartburg 353“ in großer Auflage neu herausbringen.
Während Herr Carl mit seiner Abwesenheit in der alten Heimat für heftigen Aufruhr und ein emsiges Treiben an den Schaltzentralen der Macht sorgte, kümmerte seine Anwesenheit in der neuen Heimat sprichwörtlich keine Sau. Herr Carl hatte deshalb nun endlich etwas, das er seit Jahren entbehrte: Frei verfügbare Zeit. Herr Carl hatte so viel frei verfügbare Zeit, dass er sich im Arbeitsamt mit dem Alltag einer Bevölkerungsschicht vertraut machen konnte, zu der er selbst niemals gehören würde: Den Arbeitssuchenden, den Arbeitsunwilligen, den Arbeitslosen, den Nichtsnutzen, den Verlierern der Gesellschaft. Natürlich war auch Herr Carl für den Moment arbeitslos, aber er wusste, dass sich das sehr schnell ändern würde. Nach drei geschlagenen Stunden, die Herr Carl auf einem sehr unbequemen Stuhl im Flur des Arbeitsamtes hin und her gerutscht war, wurde er zur zuständigen Sachbearbeiterin Hilde Rümpf gerufen. Frau Rümpf hob die rechte Augenbraue, als Herr Carl seinen Beruf mit „Musiker“ angab. Als Herr Carl sie mit Details zu seiner künstlerischen Laufbahn vertraut machen wollte, winkte sie desinteressiert ab und fragte stoisch: „Letztes Gehalt?“ Natürlich war das Lohnniveau in Herrn Carls alter Heimat nicht ganz mit jenem in der Bundesrepublik zu vergleichen. Aber immerhin war er in der schönen sozialistischen Republik als Konzerthausorganist beinahe so fürstlich entlohnt worden wie in der BRD ein Berufseinsteiger, der als ungelernte Hilfskraft Bahnhofstoiletten putzt. Deshalb wurden Herrn Carl stolze dreiundsechzig Prozent seines letzten Nettolohnes, also unglaubliche sechshundertzwanzig D-Mark Arbeitslosenunterstützung pro Monat gewährt. Herr Carl wusste vor Freude nicht ein noch aus. Doch Herr Carl ist keiner, der sich wegen unerwarteten Reichtums einfach auf die faule Haut legt. Stattdessen setzte er alle Hebel in Bewegung, um seinen Kalender wieder mit Konzertterminen zu füllen. Es war kaum ein Monat ins Land gegangen, als Herr Carl sich wieder für einen großen Auftritt auf die Orgelbank schwingen konnte. Am elften Mai spielte er sein erstes Konzert als Bundesbürger in der katholischen Pfarrkirche Sankt Matthias in Niederschelderhütte-Birken. Auf dem Programm standen Bach, Buxtehude und Mendelssohn. Und natürlich war das Konzert mit Stücken wie „Schmücke dich, o liebe Seele“ und „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ das pure Hohelied auf die Freiheit des Individuums. Nur selten in seinem Leben hatte sich Herr Carl so unendlich frei gefühlt wie an jenem Sonntag, dem Muttertag des Jahres 1986, wo er als freier Mensch in einem freien Land bei freiem Eintritt vor vielen frei gebliebenen Kirchenbänken spielen durfte.
Herr Carl überwindet seine chronische Musikschul-Allergie
Herrn Carls Situation war nicht eben komfortabel. Er hatte inzwischen seine Zwischenstation bei Pastor Dietrich in Siegen verlassen und war nach Bad Homburg gezogen. Die dortige Wohnung teilte er mit den Eltern und seiner Schwester Carlinchen, so dass Herrn Carl selbst nur eine Fläche von acht Quadratmetern zur alleinigen Verfügung stand. Er hatte also ein klein bisschen weniger Platz als in seiner Leipziger Maisonette-Wohnung, die ihm mit ihren einhundertzwanzig Quadratmetern Wohnfläche immer zu klein erschienen war. Nun waren es also einhundertzwölf Quadratmeter weniger. Trotzdem sah Herr Carl wie immer nur das Gute, indem er nämlich schwärmte: „Hier muss ich wenigstens nicht so viel putzen.“ Da er nicht viel putzen musste, hätte Herr Carl umso mehr spielen können. Allerdings wollte sich niemand an der heißen Kartoffel, die Herr Carl nun einmal war, verbrennen. Doch Herr Carl war ja seit jeher vigilant, und so tat er auch in dieser verflixten Situation intuitiv das einzig Richtige: Er sicherte sich den Beistand von ganz oben, indem er nämlich möglichst oft zur Ehre Gottes spielte, und zwar dort, wo Gott es am liebsten hört, in Gottesdiensten. Vor allem die Gemeinden von Bad Homburg, Frankfurt am Main und Bad Vilbel freuten sich über ihren erstaunlich begabten Aushilfskantor. Allerdings war es für den stets auf großem Fuße lebenden Herrn Carl sehr schwierig, mit sechshundertzwanzig D-Mark Arbeitslosenunterstützung und den mickrigen Einnahmen aus den Vertretungsdiensten in Kirchen einen ganzen Monat hinzukommen. Deshalb hat er etwas getan, was er schon immer gut konnte. Herr Carl übte sich in Demut und stellte seine Dienste den Schwächsten zur Verfügung: Den Schülern der nahegelegenen Volkshoch- und Musikschule. Dies, obwohl, wie wir wissen, seine Erfahrungen mit Musikschulen nicht die besten waren. Zunächst übernahm er einige Klavierschüler, wobei das 92-jährige Fräulein Helene Mehlhorn aus Friedrichsdorf wegen seines Fleißes besondere Erwähnung verdient. Fräulein Mehlhorn hatte bereits seit über zwanzig Jahren Klavierunterricht genommen, als Herr Carl ihre weitere Ausbildung übernahm. Sie bedurfte daher nicht in erster Linie einer besonderen musikalischen Anleitung, sondern vor allem eines geduldigen Gesprächspartners. Bereits nach der ersten gemeinsamen Klavierstunde hatte Fräulein Mehlhorn Herrn Carl in ihr Herz geschlossen, denn er war nicht nur ein guter Zuhörer, sondern auch ein begnadeter Erzähler phantastischer Geschichten.
PS: Herr Carl setzte weder Voodoo noch sonstige mystischen Kräfte ein. Dennoch traf er jene, die ihn liebten, unwissentlich wieder einmal mitten ins Herze. Und das ging so: Vor einiger Zeit, als Herr Carl noch der Carli war, hatte er nach einem Gastspiel eine kleine, verwaiste Katze aus dem schönen thüringischen Schnett mit ins Konzerthaus genommen, sie liebevoll aufgepäppelt und auf den schönen Namen „Piffaro“ getauft. Natürlich hatte er das Tier nicht mitnehmen können, als er die geliebte, sozialistische Republik verließ. Das war aber nicht schlimm, denn Piffaros Revier reichte derweil von Auerbachs Keller bis zum Alten Johannisfriedhof. Innerhalb dieses Jagdgebietes hatte sich Piffaro besonders mit dem Kellner Friedereich und der alten Frau Sonneberg angefreundet. Da beide voneinander nichts wussten und folglich beide Piffaro als ihr Streunerchen adoptiert hatten, hörte das Tier inzwischen auch auf die Namen Mizzi und Theobald. Außerdem war Piffaro etwas mollig geworden. Carlis Flucht lag bereits etliche Wochen zurück, als während einer Probe im Konzerthaus ein eindringliches Katzenmauzen zu hören war. Das Spiel stockte und ein Klarinettist rief aus: „Carli ist wieder da“. Da musste sogar Professor Kurth schmunzeln, obwohl er das später stets bestritten hat.
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