Die alte IPO-Raumsonde „Intersystemar 1“ war als Erste in das Planetensystem des Fixsternes Altakol eingedrungen. Sie kam an der Spitze eines ganzen Schwarmes von Raumsonden, aus der fremden Welt Puntirjan. Seit ihrem Start war sie auf das Altakolsystem zugerast, jahrzehntelang und mit fast unvorstellbarer Geschwindigkeit. Hier hatten ihre Absender ihr Ziel entdeckt: Sariah, den blauen Exoplaneten. Die interstellaren Robotersonden dorthin waren jahrzehntelang beschleunigt worden, zuerst chemisch und mit Sonnensegeln, dann mit einem Xenon-Ionentriebwerk, nuklear und am Ende mit Hilfe von Antimaterie. Dann waren sie jahrzehntelang abgebremst worden, wiederum mit all diesen Arten von Antriebskräften.
Zunächst gab es hin und wieder einige Kometenkerne oder Gesteinsbrocken, die in den kalten, dunklen Weiten des Weltalls vorbeizogen, zusammen mit etwas interstellarem Staub. Die Brocken zogen beim Abbremsvorgang der Sonden noch immer mit einigen Promille der Lichtgeschwindigkeit vorüber. Die Sondenformation begann abzubremsen. Sie hatte eine Wolke aus einigen Hundert Milliarden Gesteins-, Staub und Eiskörpern erreicht. Sie gehörte bereits zum System des noch fast ein Lichtjahr entfernten gelben Zwergsterns Altakol.
Plötzlich geschah es, dass dort zufällig zwei dieser tiefgekühlten Brocken frontal kollidierten. Sie prallten nicht nur voneinander ab, sie zerbrachen in viele, kleine Fragmente. Ein winziges Teilchen dieser Eisfragmente geriet in den Weg der fremden Sonde. Es berührte sie leicht. Die Sonde streifte es kurz, ohne dass ihre Bahn groß verändert wurde, aber ein äußeres Blech der Sonde bekam einen Kratzer. Dadurch gab es mechanische Spannungen in der Außenhaut der Sonde. Ein Stück Außenhaut sprang ab. In Folge dessen lockerten sich einige der Befestigungsschrauben, gefertigt aus einer permanent magnetisierten, außerirdischen Neodym-Legierung. Langsam lösten sie sich vom Blech, zusammen mit Dschersis Modul, der kleinen Kommunikationsbox an der Intersystemar 1. Das Modul driftete langsam ab, zusammen mit einer der Schrauben. Sie wurden von einem der vorbeischießenden Eisfragmente aufgenommen und verschwanden mit ihm in den Tiefen des Raumes. Das Eisfragment wurde von weiteren Bruchstücken getroffen. Sie lenkten es ab. Und so geriet es auf eine Bahn, die es langsam aber sicher in die Nähe des Fixsternes Altakol führte, in das Zentrum der Kometenwolke.
Es piepte. Kapitän General Fazzuwär sah auf sein Display. Eine die Mitteilung von der Astronavigation. Die der Altakolia-Flotte vorausgesandten „Intersystemar“- und „Altakol-Späher“-Raumsonden hatten das Planetensystem von Altakol erreicht. Neue Holo-Aufnahmen des inneren Planetensystems trafen ein. Die vier Gesteinsplaneten waren deutlich erkennbar: außen ein roter Planet, dann Sariah, der blaue Planet, danach ein grell-weißer und ganz innen ein schneller, kleiner Planet. Weiter außen die vier Gasriesen. Und zwischen ihnen und dem roten Planeten lag einen Trümmergürtel, ideal zum Aufsammeln von Rohstoffen für die automatische Konstruktion der Versorgungsstationen.
Auch Kapitän Jenis auf der Altakolia I erhielt die Daten. Er hatte gerade ein paar Ravrokylkörner aufgepickt, zusätzlich zu Dr. Keushs Antibiotikum gegen die Schnabelfäule, als Tüngör ihm die Dateien übermittelte. Tüngör war der Offizier der Raumsonden-Steuerzentrale, und er sandte eine weitere Kopie der Datensätze zu den Relaistationen im interstellaren Raum, zur Weiterleitung in die nun viele Lichtjahre ferne Heimatwelt.
„Perfekte Arbeit!“, lobte Jenis. Dankbar sah er Tüngör an. Sie verband eine so lange Geschichte. Bevor Tüngör damals zum Expeditionsteam kam, war er Geheimagent der I.P.O., der I nter p lanetarischen O rganisation. Im Krieg gegen die Sarkarier hatte er seine Schwester verloren, bei einem Bombenangriff der Sarkarier. Auch sein großer Bruder, der Abenteurer Gugay, war in den immer weiter ausufernden Konflikt mit dem sarkarischen Gouverneur Aru geraten. Nach dem Sieg der IPO hatten sie sich in Jenis‘ Augen für die Teilnahme am Projekt Altakolia qualifiziert. Jenis war damals sein Kollege. Schließlich ist er auch der beste Freund von Tüngör geworden. Jenis war wie Tüngör überzeugter Demokrat, und er war ein liebevoller Familienvater. Im Einsatz für die IPO war er über sich hinausgewachsen, hatte anderen Mut gemacht und Führungsqualitäten entwickelt – aber auch eine Abneigung gegen seinen damaligen Widersacher, den sarkarischen Kapitänskollegen General Fazzuwär. Dank seiner Spezialausbildung zum Agenten des IPO-Geheimdienstes behielt er trotz allem ruhiges Blut – auch dann noch, als es zu einer sarkarischen Cyberattacke auf eine IPO-Raumstation kam. Seine damalige, mutige Besonnenheit, sie wurde zum Motto seiner Crew: „ Hier gibt es kein draußen, nur die Leere des Alls. Wir räumen daher jetzt erst einmal die eigene Station auf – und dann auch noch Puntirjan! “ Dann, nach dem Sturz des Kaisers von Sarkar, war ihr Aufatmen groß: Nie wieder Krieg, die IPO-Demokratie hatte gesiegt. Doch der Untergrund-Terror der radikalen Sarkarier blieb. Kurz vor dem Start der Flotte verlor der junge Jenis bei einem ihrer Attentate ein Bein. Er überlebte und konnte mit Tüngör am großen, interstellaren Projekt „Altakolia“ teilnehmen. Nach einem Giftmord an seinem Schiffskommandanten auf der Altakolia I. wurde er sogar dessen Nachfolger. Er ermittelte den Mörder. Es war Ssefaru Xing, der Attentäter, dem trotz aller Bemühungen noch dieser schreckliche Terroranschlag auf die Flotte gelungen war. So viele Leben hatte er gekostet, so viele Raumstationen! Trotzdem: Jenis hatte die Mission retten können. Und jetzt waren sie im Anflug auf Altakol.
Tüngör zeigte Jenis ein neues Bild. „Schau, Sariah! Dort, bei Altakol!“
Jenis fühlte Glück und Stolz warm wie einen Blutstoß durch seinen Körper strömen. „Altakol!“, flüsterte er. Seit puntirjanischen Urzeiten war er das Ziel aller Träume. Die puntirjanische Religion war zudem extrem wissenschaftsfreundlich. Die Kleripapyri von Monastair, ihre heilige Schrift, sagte es voraus: „ Die Natur offenbart die Größe ihres Schöpfers. Darum: erforsche sie. Untersuche ihre Phänomene. und du wirst nicht mehr allein sein! “. Schon in der Antike der uralten, puntirjanischen Zivilisation hatten die Vogelmenschen naturwissenschaftliche Arbeitsweisen entwickelt, industrielle Strukturen, der Interfunk und die Raumfahrt-Technologien und Mond-Kolonien der Orbital-Pioniere und Raumsiedler. Einer ihrer antiken Wissenschaftsingenieure hatte in der instrumentell-analytischen Astronomie sogar das Verfahren der Spektralpolarimetrie entdeckt, mit dem man im Lichtspektrum fremder Planeten Anzeichen von Photosynthese nachweisen konnte – und somit Biosignaturen für das Vorhandensein von Leben. Beim Altakol hatte man einen Gesteinsplaneten entdeckt, einen Exoplaneten in der Lebenszone. Sariah. Hier gab es flüssiges Wasser, Photosynthese und auch Sauerstoff. Sariah wurde das Zentrum aller religiösen und auch populärwissenschaftlichen Mythen, bei allen Völkern Puntirjans. Ganze Nationen und Generationen arbeiteten daran, den interstellaren Raumflug einer Sonde zu planen und zu ermöglichen. Und dann den ersten Flug bemannter Raumkolonien dorthin – die große Expedition der Altakolia-Flotte.
Das Eisfragment mit dem Modul der fernen, puntirjanischen Sonde und der Schraube driftete an den Rand der Kometenwolke. Hier traf er auf einen umgelenkten Kometenkern. Dieser nahm ihn in sich auf und setzte seine Reise in das Innere des Sonnensystems fort.
Die Raumsonde selbst leitete ein weiteres, automatisches, nukleares Abbrems-Manöver ein. So gelangte auch sie in eine Umlaufbahn um das gelbe Zentralgestirn, dessen System sie erforschen sollte. Weitere Schwärme puntirjanischer „Intersystemar“- und „Altakol-Späher“-Raumsonden folgten. Noch im Anflug nahmen sie detailliertere Holo-Bilder und -Spektren der noch fernen Planeten auf, auf die sie zurasten. Sie wurden gespeichert, gebündelt, verstärkt und der Altakolia-Flotte zugesendet. Auch die Roboterschiffe und ihre Mikro-Raumsonden hatten Positions- und Vollzugsmeldungen an die Altakolia-Flotte gefunkt. Ihr automatisches Abbremsmanöver hatte einige Monate gedauert. Dann waren auch ihre Ionentriebwerke ausgebrannt. Sie hatten den Ringplaneten registriert und dort planmäßig ein Swingby-Manöver vollführt. Sie gerieten in den Planetoidengürtel. Hier befanden sie sich in einer stabilen, elliptischen Umlaufbahn. Ihre Funktionsfähigkeit war nicht beeinträchtigt. Der Verlust des Kommunikationsmoduls „Dschersi“ und einiger Neodymschrauben in der Kometenwolke hatte bei „Intersystemar 1“ damals keinen weiteren Schaden verursacht. Ohne dass sich jemand Sorgen machen musste, konnten die Sonden in Ruhe einige Jahre Solarenergie tanken und abwarten, bis dass neue Funkbefehle der Raumsiedler aus Puntirjan bei ihnen eintrafen. In dieser Zeit verfolgten sie ihre Forschungs- und Konstruktionsprogramme. Nach und nach gesellte sich der ganze Schwarm von Begleitsonden und puntirjanischen Roboterschiffen zu ihr. Vollautomatische Sammelsonden schwärmten zur Rohstoffsuche im Planetoidengürtel aus. Die Roboterschiffe konstruierten daraus die Bauteile und –module, aus denen weitere Roboterschiffe und Raumkolonien gefertigt wurden, Versorgungsdepots für die demnächst eintreffenden Raumsiedler aus Puntirjan.
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