Jeden Moment kann es mich treffen. All das hängt vom Zufall und vom Glück ab. Keiner kann es vorhersagen. Nicht einmal der Feind selbst.
Der Tag ist kalt und nebelig. So kalt wie noch nie. Ich schaue meinem eigenen Atmen zu und frage mich, wie lange er wohl noch da sein wird. Die einen reden über ihr Heim, die anderen warten einfach nur ab.
Niemand kennt meine Geschichte. Ich will nicht, dass sie jemand kennt. Sie ist das Einzige, was mir geblieben ist. Das Einzige, was noch mir gehört.
Steine fallen auf meinen Stahlhelm. Die Erde scheint zu beben.
Von weiter Ferne des Grabens höre ich rufen: „Sie sind da! Die Panzer sind da!“
Der Ruf hört sich für mich an, wie das Singen einer Nachtigall. Ich kann es nicht glauben. Sie sind da.
Schnell hebe ich unsere Fahne auf, auf der ich eben gesessen bin und schwenke sie hin und her, damit es keine Verwechslung gibt. Das Symbol der Verbundenheit. Der Adler mit dem Kreuz. Es liegt in meiner Hand.
Die anderen scheinen einzusehen und hissen die Weiße. Ich glaube nicht, dass die Panzergarde sie sieht, es macht auch keinen Unterschied. Für sie hat die letzte Stunde geschlagen.
Allesamt werden erschossen. Und wer hilflos mit erhobenen Händen hervorkommt, der wird durchlöchert, bis nichts mehr von ihm zu sehen ist.
So ist es nun mal. Keiner kann es erklären, aber sie sind doch anders als wir.
Sie sind Helden, die Panzer. Sie haben uns befreit. Mit strengem Blick und mieser Miene sehen sie uns an und heben die rechte Hand in Richtung des Himmels. „Heil sind wir alle!“, so rufen wir. Alle kriechen aus dem Loch in der Erde. Alle sind wir erlöst. Nun können wir wieder aufrecht gehen. Beeindruckt von dem schweren Gerät formatieren wir uns in Reih und Glied. Ich bilde die letzte Reihe. Alles kommt uns wie ein Traum vor. Der Krieg hat sich in uns hineingefressen. Im Marsch gehen wir voran. Mit Hunger und Durst, mit den Gedanken an den Tod. Noch ein letztes Mal sehen wir in den Graben hinein, während wir entlang marschieren. Der Tod winkt uns von unten empor und ruft uns zu, mit teuflischem Lachen: „Wir sehen uns wieder! Ich stehe stets hinter dir, Soldat.“
Die Toten im Graben lassen wir alle zurück. Wir tun so, als würden wir sie nicht kennen, waren sie doch einst unsere Brüder. Alle sehen sie zu uns, doch wir leben nicht mehr zu unseren Gunsten. Wir leben nur mehr aus Angst vor dem Tod.
Nur mehr die Hälfte aller Männer ist noch da. Und ich habe alle gekannt. In Begleitung der Panzer gehen wir den Weg entlang. Noch aus weiter Ferne kann man das Rauchen der Leichen und der Granaten erkennen. Die qualmende Erde, die Auswirkungen unseres Daseins, lassen meinen Atem stocken. Dieses Gebiet ist gezeichnet. War es doch einst ein reines Feld, auf dem Mädchen Blumen pflückten. Jetzt ist es vorbei. Möge diese Erde den Frieden wieder finden und wieder Blumen wachsen lassen. Mögen all die Patronen und Toten in der Erde versinken und diese Geschichte vergessen lassen. Möge all das hier vorbei sein.
Der Schlamm lässt mich bis zu den Knöcheln einsinken. Es ist hart und mühsam. Mit einem kurzen Blick zurück kann man noch immer meine Abdrücke im Schlamm erkennen. Es sind zwei Füße, die auf dieser entweihten Erde gewandert sind. Doch nicht mehr. Sie sehen so einsam aus, neben all den vielen meiner Kameraden. Wird die Einsamkeit jemals gebrochen? Wird meine Seele wieder hell erleuchten oder wird sie so enden? Werde ich denn für immer einsam sein? Wenn ich von dieser Erde gehe und fliegen lerne, wer würde schon an mich denken. Meine Geschichte wird verstummt bleiben, wie die der Patronen unter dem Schlamm.
Ein langer Marsch ist es. Ohne Pause gehen wir. Der Atem ist schwer und die Kälte macht sich an meinem Rachen bemerkbar.
Durch schöne Landschaft wandern wir. Wir Krieger, mit unserem Gefährt. Zwischen Rapspflanzen und Mohnblumen gehen wir hindurch. Mit den Gewehren in der Rechten und über die Blumen streichend mit der Linken. So wie wir durch die schöne italienische Landschaft spazieren, kommen in uns die heimatlichen Gefühle wieder hoch. Die Gefühle des Friedens und der Unschuldigkeit. Schöne Blumen sind es. Und jede hat noch ihr Geheimnis unter der Erde. Jede Blume hat ihre Aufgabe und ihren Sinn. Sie scheint, meinen in den Schatten zu stellen. Ich möchte mir eine pflücken, doch nicht vor den Kameraden. Schnell eine gelbe Blüte abgezupft und in meinem Feldgeschirr verstaut.
Hinter der Baumreihe vor uns, sehe ich schon eine Turmspitze. Ein Gotteshaus. Es ist ein kleines Dorf mit kleinen Häusern. So unschuldig und klein. Alle haben Angst. Es ist unbesetzt. Alle wollen fliehen, doch wir heben die rechte Hand zum Himmel und jeder weiß Bescheid, wir sind Helden.
Es ist dämmrig und der Nebel wird dichter. „So bleiben wir doch in unserem kleinen Dorfe“, kommentiert der Gruppenführer.
Sofort fällt mir ein hübsches Mädchen von zierlicher Figur auf. Mit wunderschönen Augen und einem zart geformten Mund, worauf ein zärtliches Lächeln zu sehen ist. Wenn ich sie nur haben könnte. Es wartet doch sonst niemand auf mich. Doch ihr Blick gehört dem auf dem Panzer. Sie hat sich in ihn verliebt. So Fürchterliches habe ich gesehen, so viel Mut hatte ich bewiesen. So viel habe ich erlebt und so oft habe ich einen Blick in die Feindesaugen gewagt. Doch die größte Waffe ist eine Frau. Sie kann einen Mann mit nur einem Blick erstarren lassen und über ihn gleichzeitig die Herrschaft erlangen. Sie ist ein Meisterwerk, das von Gott erschaffen wurde. Der Zufall hat mich zu ihr geführt. Oder ist es doch das Schicksal, das mich führt?
3.
Ich muss immer daran denken. Der Krieg ist ein Teil von mir geworden. Ich könnte nicht mehr ohne ihn. Viel zu viel hängt daran. Meine Kameraden wurden für mich wie eine Familie. Doch immer, wenn ich an das Gesehene denke, fahre ich mir durch die Haare und fange an zu frieren.
Ich ruhe mich auf einem Heuhaufen mit meinen Kameraden aus. Er ist schon halb kaputt und mit Frost übersehen.
Es ist so kalt, aber wir wollen doch erst später hineingehen. Es würde uns allen gut tun, über alles zu sprechen, doch stattdessen reden wir über Frauen und Sängerinnen. Ein älterer Kamerade namens Karl hat eine Gitarre aufgetrieben und fängt an zu singen.
Er singt über das Zuhause. „Ach, wie vermiss ich es. Wie schön war es. Doch irgendwann gibt’s ein Wiedersehen.“ Er singt es aus ganzer Seele. Da er mit vollem Herzen dabei ist, steigen wir allesamt mit ein.
Ich habe sie beobachtet. Ich weiß, wo ihr Haus liegt. Wie sie wohl heißen mag? Ist es die schöne Friede oder ist es doch die schüchterne Barbara. Ich weiß, was meine Aufgabe ist. Doch soll ich? Ich weiß nicht recht. Meinen Kameraden sage ich kein Wort. Sie ist doch mein, sonst kommt der Karl oder jemand anderes mir zuvor.
Nun sehe ich meine Pflicht ein und erhebe mich. Mit den Händen greife ich in das Heu hinein und verschmutze sie mir. Doch an der braun-grünen Uniform sieht man es nicht. Ich gebe vor, mir einen Schlafplatz zu suchen und verabschiede mich.
Ich fühle mich unwohl. Mein Herzschlag fühlt sich an, als hätte neben mir eine Granate eingeschlagen.
Lange überlege ich, ob ich an der grün gestrichenen Holztür klopfen soll. Doch wenn ich denke – an den Graben –, sollte ich doch nicht vor so etwas Scheu haben.
Ich klopfe dreimal fest, damit man es nicht überhören kann. Es gibt drei dumpfe Geräusche ab. Die Farbe blättert schon von ihrer Türe. Nun muss ich hier durch. Was macht man nicht alles für die Liebe.
Leise höre ich Schritte. Sie kommen immer näher. Mit einem Ruck ist die Türe offen. Ein großer Mann mit schwarzem Haar und Vollbart. Ihr Vater. Er überragt mich mit seiner Größe. Das macht es mir nicht gerade einfach. Mit meinem wenig Italienisch und Handgefuchtel versuche ich, um Essen zu bitten. Er versteht und führt mich in einen Raum, in dem das hübsche Mädchen sitzt. Sie essen nur bei Kerzenlicht. Im Kamin glüht noch die Asche. Sie sitzt ihrer Mutter gegenüber. Sie sieht so wunderschön aus. Schöner, als ich je zuvor ein Mädchen gesehen habe. Sie ist Gottes Kunstwerk. Nun sieht sie mich mit großen Augen an. Mit ihren grünblauen Augen, die mich an das Meer erinnern und perfekt mit dem Weiß harmonieren. Mit der Uniformmütze unter der Achsel lächle ich ihr in das schöne Gesicht. Ihre Augen brennen mir Wunden in die Seele. Sie strahlen mich groß und glänzend an. Ich würde vor ihr weinen, könnte ich es noch. Sie ist die eine, von der ich schon so oft geträumt habe. Ihr Vater, der hinter mir in der Türe steht, zeigt zu einem Sessel an einem Ende des Tisches. Am anderen nimmt er selbst Platz.
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