Dann wiederum waren seine Beobachtungen in Whitescorn sehr akkurat gewesen und mit seinen eigenen abdeckbar.
Wulf nannte ihn einen Narren, und nicht selten kam er sich auch wie einer vor, wenn er Sam beim Training beobachtete oder dabei, wie er das Zelt in Ordnung brachte. Dummerweise bekam er seinen Anblick nicht aus dem Kopf. In der Kleidung einer Magd hatte er eine wesentlich bessere Figur gemacht als in Hemd und Hosen. Mit dem gefüllten Leibchen, von denen Hawk schließlich wusste, dass es Backwaren gewesen waren, hatte er ihr mühelos das Mädchen abgekauft und nicht nur er. Hawk hatte ihn im Auge behalten, für den Fall, dass er einen der Wachen auf sich oder ihn aufmerksam machte und bemerkt, wie voll der Stand zu jederzeit war. Kein Wunder. Wann immer Sam sich abgewendet hatte, um ein Brot aus der Ablage hinter sich zu holen, waren seine Röcke geschwungen, und es hatte den Anschein gehabt, er wiege mit den Hüften – verführerisch lockend, wie ein Weib.
Vermutlich nahm Wulf Sam deswegen nicht für voll, weil er auch im Kampf eher tänzelte, als Standhaftigkeit bewies. Aber seine Taktik ging nichtsdestotrotz auf. Obwohl Sam kaum eine Chance hatte, Wulf zu besiegen, war er heute verdammt nah dran gewesen. Fein, Wulf war gestolpert, aber der Bursche hatte dafür gesorgt und seinen Vorteil genutzt. Er war ein geborener Kämpfer und wenn er so weiter trainierte, würde aus ihm ein ernstzunehmender Gegner, sobald er ausgewachsen war und endlich etwas Muskulatur aufbaute. Wenn er erst einmal zum Manne geworden war. Leise Wehmut beschlich ihn. Sam wäre nicht mehr so nett anzusehen, wenn es erst einmal so weit war. Hawk drehte sich auf seinem Lager und blinzelte in die Dunkelheit. Sams Atem war immer noch tief und gleichmäßig.
Er schlief im hintersten Ende des Zeltes eingerollt zu einer Kugel, fast versteckt hinter Hawks Waffentruhe. Sein blondes Haar starrte vor Dreck, der Bub verwehrte das gemeinschaftliche Bad. Nur in Begleitung seiner Herzdame nutzte er den Fluss, um sich zu säubern, vermutlich nicht nur dazu, aber Hawk hatte Anweisung gegeben, den beiden nicht zu folgen. Sie sollten sich sicher und angenommen fühlen und nicht bedrängt und unter Beobachtung. Das Lager war gesichert und ihr unbemerktes Verschwinden damit so gut wie unmöglich. Nicht, dass er sich sorgte, Sam und Gretchen könnten flüchten wollen. Beide hatten sich gut eingefügt, auch wenn Wulf das gerne anders bewertete und immer noch eine Gefahr in dem Burschen sah.
Hawk drehte sich erneut und schloss die Augen. Schlafen. Leider blitzte ihm Sam in Gewandung einer Magd entgegen. Unwirsch und zutiefst verärgert, dass man ihn dazu zwang, Frauenkleidung zu tragen. Verlangen schoss durch ihn und schreckte ihn auf. Das ging zu weit. Zwar wusste er nicht, was er mit diesem Gefühl anfangen sollte, das so gar nicht seiner üblichen Neigung entsprach, aber es war schlicht abnorm. Nichts, worauf er sich einließe, komme, was da wolle. Er mochte den Jungen, das konnte er zugeben, aber sonst hatte er keinerlei Verwendung für ihn.
Hawk rutschte aus dem Bett. Etwas körperliche Betätigung sollte ihn läutern und von aberwitzigen Ideen fortreißen. Trotzdem galt sein letzter Blick dem friedlich schlummernden Sam.
Der Pfiff war das Zeichen zum Angriff. Wie befohlen hielt sich Johanna im Hintergrund. Ihr lag ohnehin nichts daran, Reisende zu überfallen. Sie sah sich nach John und Gilbert um. Die beiden Gauner waren ihr am nächsten positioniert worden und sollten den Rückzug sichern. Beide starrten konzentriert auf das Szenario vor ihnen. Johanna streckte sich nach einem Ast, zog ihn zu sich und nutzte ihn als Treppe. Mit einem Sprung rollte sie sich um einen weiteren, dickeren Ast und zog sich hoch. Johanna vergewisserte sich, dass Gilbert und John noch immer den Kampf auf der Straße verfolgten, bevor sie sich leise auf den Weg machte. Nach einem kleinen Umweg befand sie sich schließlich über dem Schauplatz. Die Halunken hatten die Gegenwehr der Überfallenen niedergerungen, und Hawk befahl den Insassen der Reisekutsche auszusteigen. Ein rundlicher Mann mit kahl rasiertem Kopf lugte aus dem Fenster.
»Was versündigt Ihr Euch! Lasst Gottes Abgesandte in Frieden reisen, Ihr Rüpel!«
»Sire, Eure Reise wird alsbald friedlich weitergehen, sofern Ihr meinem Wort Folge leistet.« Hawk ließ sein Schwert zurück in die Scheide gleiten und stieg von seinem Ross. Wulf hingegen blieb wachsam. Er behielt die Umgebung ebenso im Auge wie die Kutsche und warnte: »Lasst sie nicht aussteigen.«
Hawk ignorierte ihn und öffnete den Wagenschlag. »Sire, wenn ich bitten darf.« Hawk deutete eine Verbeugung an.
»Ihr werdet Gottes Zorn auf Euch laden, solltet Ihr Euch an meiner Wenigkeit oder meinem von Gott gewollten Besitz vergreifen!«, warnte der Insasse der Kutsche, ohne Anstalten zu machen, Hawks Befehl nachzukommen.
»Dies ist meine letzte Bitte, Sire: Steigt aus dem Wagen!« Hawks Wunsch wurde mit stählerner Härte vorgetragen, die Johanna einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Gespannt hielt sie die Luft an.
»Gott in seiner Gnade …«, hob der Geistliche an und blieb noch immer versteckt im Dunkeln seines Reisewagens.
Hawk knirschte: »Das genügt!«, und stieg auf die niedrige Stufe der Kutsche. Wulfs Warnung verpuffte ungehört, und Augenblicke später stolperte ein feister Mann im kirchlichen Habit aus dem Gefährt und fing sich noch gerade so.
Was Johanna wesentlich mehr überraschte, war jedoch der zweite Insasse. Hawk war nach dem Geistlichen wieder aus der Kutsche gestiegen und hatte seine Hand in den Wagen gehalten. Nun stieg eine in teuren Stoffen gewandete Lady aus, wobei sie die Hilfestellung des Vogelfreien huldvoll annahm.
Johanna hielt den Atem an. Die Lady war bei weitem keine Unbekannte.
»Mylady«, grüßte Hawk mit einer ehrfürchtigen Verbeugung, und Wulf pfiff beeindruckt.
»Ihr werdet des Herrn Unmut auf Euch ziehen!«, prophezeite der Geistliche, wobei seine feisten Wangen waberten.
»Dann steht die Lady in Eurem Besitz, Hochwürden?«, erkundigte sich Hawk, wobei er den Mann keines Blickes würdigte. Dieser verweilte auf der Lady, die bei der Bemerkung kokett die Lider senkte.
»Lady Eversham reist unter meinem Schutze!«, ereiferte sich der Geistliche und plusterte sich auf. Allerdings wagte er es nicht, seinen Schutz auch zu demonstrieren.
»Lady Eversham«, raunte Hawk und Johanna runzelte die Stirn. Sie sah dem Paar nach, als Hawk die Lady von dem Schauplatz des Überfalls fortführte. An seiner Stelle übernahm es nun Wulf, dem Hochwürden um seinen Reichtum zu bringen.
»Der Teufel wird sich Eure Seele holen!«, keifte der Mann. »Und seine Gnaden wird sich Eure wertlosen Leben …«
Wulf brachte ihn zum Schweigen, indem er den leeren Geldsack in dessen Mund schob.
Der Geistliche spuckte ihn aus. »Seine Gnaden werden Euch aufbringen und Euch zu Ehren der Hochzeit seiner Tochter richten!«
Johanna hielt den Atem an. Unter dieser Voraussetzung bekam die anstehende, wenn auch unerwünschte Vermählung, tatsächlich einen angenehmen Aspekt.
»Welch blutiges Spektakel für eine vor Gott geschlossene Verbindung«, höhnte Wulf und gab dem Hochwürden einen Schubs. »Steigt in Euer Gefährt!«
Hawk führte die Lady zurück in Johannas Blickfeld. Die Tante war nur wenige Jahre älter als Johanna selbst, aber scheinbar wesentlich dümmer, hing sie doch mit hingebungsvollen Augen an Hawk. Er küsste ihre Hand, flüsterte ihr etwas zu, was sie zum Lachen brachte, Johanna aber nicht verstehen konnte.
Die Lady stieg in die Kutsche, und Hawk schloss den Verschlag.
Johanna schob sich zurück zum Stamm des Baumes, auf dem sie hockte und sprang dann auf einen tiefer liegenden Ast, der den eines nahestehenden zweiten Baumes kreuzte. Auf dem Weg schaffte sie es zurück zu ihren beiden Bewachern. Vorsichtig ließ sie sich auf den Boden herab und lehnte sich gegen den borkigen Stamm, gerade rechtzeitig, um den Rückzugspfiff mitzubekommen.
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