»Ich bin davon überzeugt, dass wir uns an den Burschen halten sollten. Wir brauchen einen Weg …« Seine Gedanken wanderten ab auf der frenetischen Suche nach diesem Weg. Sicher war, dass er es versuchen wollte – auf Teufel komm raus – bevor er zuließ, dass dem Knaben ein Leid geschah, und der Weg über das Mädchen wäre erst der vorletzte. »Lass sie. Wenn Ihr Langeweile habt, übt Euch im Zweikampf.«
Obwohl es ihn nicht zurück in sein Zelt zog, bedeutete ein Rundgang über das Gelände immer eine unerwünschte Ablenkung. Es gab dutzende Stationen und ebenso viele Anfragen, die ihn erreichten. Was war der nächste Schritt, woher kamen die Neuankömmlinge, wie sollte mit ihnen verfahren werden … Diese Fragen beherrschten nicht nur ihn.
»Jo!«, rief das Mädchen in schriller Tonlage und flog dabei nahezu durch das Zelt, wo sie sich dann auf ihren Gefährten warf. Heulend und Wehklagend. Sam tätschelte ihre Hand und versicherte ihr, es ginge ihm wohl. Eine Lüge, denn mittlerweile hatte er fünf Tage nichts zu sich genommen und dementsprechend schwach war er.
»Er wird die Woche nicht überstehen«, mischte sich Hawk ein und erntete einen bösen Blick. Das Mädchen quiekte voller Entsetzen.
»Bitte, Ihr dürft Jo nichts zuleide tun! Ich flehe Euch an!«
»Gretchen!«, zischte Sam und griff nach ihren Fingern, um sie fest zu drücken. »Ich sterbe lieber als …« Der Rest blieb ein stummes Zwiegespräch zwischen den Beiden.
»Und ich?«, wisperte das Mädchen. »Was wird aus mir?«
Ein Ruck ging durch Sam, und die Frage hatte endlich die Wirkung, die sein Wohl nie in ihm auslöste. Er setzte sich auf, was ihn schier unendliche Kraft kosten musste, verlor er doch den letzten Rest an Farbe.
»Gretchen …« Verzweiflung machte sich auf seinem Antlitz breit, und er wirkte noch unmännlicher als jemals zuvor. Auf wie viele Lenze mochte er kommen?
»Es liegt an Euch«, mischte Hawk sich nach einem Räuspern wieder ein. »Mir liegt nichts daran, Kindern den Garaus zu machen.«
Wieder quiekte das Mädchen und drängte sich noch fester in die Umarmung ihres Gefährten, wo sie leise zu weinen begann. Sams Blick richtete sich mit einem Ärger auf ihn, der wohl gerechtfertigt war. »Es gibt Schlimmeres als den Tod!«
»Wohl wahr.« Allerdings war es eine sehr endgültige Weltansicht. »So suchst du ihn und wünscht ihn auch deiner Gefährtin?«
Sams Miene wurde eisig. »Es fehlt an Möglichkeiten.«
»Ich biete dir einen Ausweg.« Hawk lockerte seine Haltung, hatte er doch bisher breitbeinig vor dem Paar gestanden und die Arme vor der Brust verschränkt. Nun kniete er sich zu ihnen. »Du bist ein gescheiter Junge, und sie liegt dir doch am Herzen.«
Sam bestätigte es, indem er das Mädchen enger an sich zog.
»Die Informationen, die ich suche, betreffen dich doch nicht. Sie sind so allgemein, dass man sie auch nicht auf dich zurückführen könnte. Was ficht es dich an, ob wir es auch wissen? Ihr seid geflohen, habt ein Streitross entwendet und edle Gewänder eurer Herrin. Es gibt keinen Weg zurück für euch, das muss euch doch bewusst sein.«
»Wir haben nicht vor, jemals nach Knightsbridge zurückzukehren!« Das nahm er ihm bedenkenlos ab.
»Was hindert dich dann, mir von Knightsbridge zu erzählen?«
Sam schnaubte und maß ihn mit einem Blick, der mehr als deutlich sagte, was er von ihm hielt. »Es wäre unser Tod.«
»Knightsbridge …«
»Es ist das einzige, womit wir Euch dienlich sein könnten, und Ihr werdet Euch unser entledigen, sobald ich auch nur einen Ton verliere!«, spie er und wirkte wie ein angriffslustiger Hund. Trotzdem blieb etwas Weiches an ihm, etwas, das einen Instinkt in Hawk auslöste, den er nicht verstand.
»Ich schwöre dir …«
Sam spuckte aus. »Ihr seid so glaubwürdig wie jeder andere Halsabschneider!«
»Wie du selbst, nicht wahr?« Wieder wirkte Sam, als wolle er etwas sagen und verkniff es sich gerade noch so.
»Ihr seid nicht mit mir vergleichbar.«
»Du hast kein Vertrauen zu mir.«
Ein Schnauben war die Antwort, und Sam hob die gebundenen Hände. »Wir wurden überfallen, misshandelt und gefangen gehalten.«
Da war es schwer, Vertrauen zu fassen. Hawk starrte ihn an. Er hatte Augen, die strahlten wie der Morgenhimmel. »Vertrauen ist auf beiden Seiten notwendig«, murmelte er noch immer abgelenkt. Dieser Bube rührte etwas in ihm, keine Frage. »Ich bin bereit, dir zu vertrauen.« Er zog seinen Dolch aus der Scheide und hielt ihn hoch. Die Magd keuchte und drängte sich gegen ihren Gefährten, der ihn wiederum gelassen anfunkelte. Langsam senkte er den Dolch zwischen die gebundenen Hände und schnitt die Seile mit einem schnellen Ruck entzwei.
»Ich mache den Anfang.«
Sam rieb sich die Gelenke, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Du hast freien Zugang zu jedem Ort innerhalb dieses Camps.«
Er schnaubte verdrossen, und Hawk hob die freie Hand, um seine Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. »Vorerst müsst ihr bleiben, aber euch wird kein Leid zugefügt werden, darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.«
Sams geschwungene Lippen verzogen sich verächtlich.
»Eure Flucht war nicht durchdacht. Du kannst das Wohl deiner Gefährtin nicht gewährleisten. Ich biete dir zwei Dinge, die dir in Zukunft gute Dienste erweisen werden: Wir lehren dich die Kampfkunst und dein Weib das Überleben in karger Natur.«
Viel mehr könnte der Bursche dem Mädchen ohnehin nie bieten.
Sams durchdringender Blick ruhte auf ihm, ein deutlicher Beweis, dass er dessen Aufmerksamkeit eingefangen hatte. Sehr gut!
»Ich will Euren Schutz! Niemand wird Gretchen zu nahe kommen! Und ich will mein Pferd!«
Der Bursche war deutlich zu gierig, aber da er derzeit in ungewöhnlich nachgiebiger Laune war, stimmte er zu.
Sam atmete aus und verlor dabei einiges seiner zuvor verbissenen Haltung. Er sackte zusammen.
»Im Gegenzug erwarte ich deinen Gehorsam und deine Dienste. Gretchen wird die anderen Frauen unterstützen und von ihnen lernen.« Angespannt wartete Hawk, als ginge es um mehr als die Zustimmung eines bockigen Jünglings.
»Dienen?«, hauchte die Magd und starrte Sam dabei an, als wäre es ein monströser Vorschlag.
»Ordnung halten, mein Essen bringen, meine Ausrüstung pflegen …« Die Aufgaben eines Knappen, auf den er hier im Sherwood bereits viel zu lange verzichten musste.
»Ich lerne zu kämpfen, und Gretchen wird nicht angetastet!«
Darauf beharrte der Knabe deutlich zu heftig, aber irgendwie war es auch beruhigend, wie zugetan er der Magd war. Vermutlich war sie tatsächlich der Schlüssel zu seinem Gehorsam.
»Gretchen steht unter meinem Schutz. Niemand wird es wagen, sich ihr zu nähern, darauf gebe ich dir mein Wort.«
»Schön«, murmelte Sam und sackte weiter zurück. Seine Lider schlossen sich. »Gretchen …« Seine weiche Stimme verlor sich, aber Hawk lauschte ihr nach. Sein Blick ruhte noch immer auf dem blassen Antlitz des Knaben mit eigenartiger Faszination.

Ein Lager voller Halsabschneider
Johanna sah auf. Sie hasste es. Sie war einfach zu klein und musste ständig zu jedem aufblicken. Man nahm sie einfach nicht ernst. Man verspottete sie und ganz besonders Wulf. Er nannte sie Zwerg oder Bübchen und traktierte sie mit gemeinen Angriffen. So wie gerade eben.
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