»Sie gehört zu mir. Dieser Hundsfott hat nicht das Recht …«, begehrte Johanna erneut auf und spürte, wie die Freundin zusammenzuckte.
»Sie gehört mir!«, widersprach Wulf und griff nach Gretchens Arm, um sie auf die Füße zu ziehen.
Johanna folgte, bezwang sich aber, nicht selbst an Gretchen herumzureißen. »Mitnichten!«, spie sie stattdessen. »Ihr kennt sie nicht und macht Euch noch viel weniger aus ihr!«
Hawk beschied beiden zu schweigen. Mit grimmiger Miene sah er von einem zum andern. »Sie ist nicht deine Kragenweite, Sam. Lass sie ziehen.«
Johanna klappte der Mund auf. Sie hatte nicht auf Unterstützung gehofft, aber seine Worte waren ihren schlimmsten Befürchtungen entlehnt. »Sie gehört zu mir! Ihr habt es mir zugestanden!«, krächzte sie und schüttelte den Kopf. »Sie sollte nicht so behandelt werden.«
Hawk nickte und verlagerte sein Gewicht auf sein unverletztes Bein. »Ich verstehe deinen Einwand, Sam, dennoch werdet Ihr Euch damit abfinden.«
»Sam«, flüsterte Gretchen, Tränen der Reue in den Wimpern. »Oh, Sam.«
»Wir tun es morgen«, flüsterte Johanna und versicherte sich, dass sich niemand in Lauschnähe befand. »Ich habe mir alles genau überlegt.« Sie hakte sich bei ihr ein und zog sie weiter von den Baracken fort. »Wir brauchen eine Ablenkung, Hektor darf nicht vermisst werden und wir werden nicht anhalten können, bis wir aus dem Wald heraus sind.«
Gretchen blieb stehen, blanke Not in den Augen. Johanna wendete sich ihr zu und griff nach ihren fahrigen Händen. »Gretchen? Alles wird gut! Der Hundsfott wird dafür bezahlen, ich verspreche es dir!«
Gretchen schniefte: »Ich kann nicht!«
Johanna blinzelte verwirrt. »Du brauchst nicht zu fürchten …«
»Ich kann nicht gehen«, wiederholte sie und sah flehentlich zu ihr auf. »Ich kann nicht.«
Johanna drückte beruhigend die kalten Finger der Freundin und versicherte ihr wortreich das Gegenteil.
»Nein!«, brachte Gretchen sie zum Schweigen. »Ich liebe ihn. Ich will bei ihm sein.«
Johanna erbleichte und ließ die Hände fahren. Sie musste sich verhört haben. »Gretchen.«
»Ich weiß, was du sagen möchtest, aber so ist es nicht. Wulf ist gut zu mir, und ich … könnte ihn niemals verlassen.«
Johanna starrte die Fremde an, die bis dato ihre engste Vertraute gewesen war. Fast eine Schwester. »Du … du …«, stotterte sie und schüttelte den Kopf. Sie musste sich fassen, ihre Sinne beieinander halten. »Knightsbridge wird Samantha an meiner statt vermählen! Wulf hält dich als …« Sie konnte es nicht aussprechen. »Wir müssen fliehen!«
Gretchens Augen füllten sich mit Tränen. »Ich kann nicht«, hauchte sie verzweifelt. »Geh! Du musst gehen.«
»Ich kann dich nicht …!« Johanna brach ab, zu schockiert von dem Gedanken, Gretchen zurückzulassen.
»Du musst!«, insistierte die Brünette und umschlang sie. »Rette Samantha.«
»Gretchen! Weißt du, was du da sagst?«, fragte Johanna fassungslos und hasste sich, weil ihr tatsächlich in den Sinn kam, dass allein zu verschwinden wesentlich einfacher zu verwirklichen war.
Gretchen drückte sie kurz fest an sich, dann hielt sie sie weit genug von sich, dass sie einander in die Augen sehen konnten. »Ja, das weiß ich«, behauptete sie im festen Glauben.
Johanna war da anderer Meinung. Sie schüttelte den Kopf. »Du irrst!«
»Ich werde glücklich sein, hier mit Wulf.«
»Er ist ein Gesetzloser!«, stellte Johanna hitzig klar und nahm sich wieder zurück. Sie setzte ein Lächeln auf und bemühte sich um eine gelassene Haltung. »Gretchen, verstehst du nicht, dass Wulf es nicht ernst mit dir meint? Er sieht in dir das gleiche wie in jedem anderen weiblichen Wesen. Wie Hawk giert es ihn lediglich nach … diesem … diesem Akt.« Johanna sah bezwingen auf sie herab. »Bitte, Gretchen, was geschehen ist, ist schlimm genug, aber … wir können mit dem Leben davonkommen! Du musst mich begleiten!«
Gretchen schüttelte ihren Kopf. »Ich kann nicht. Sorge dich nicht um mich. Mir wird es gut ergehen. Wulf wird sich um mich kümmern.« Sie glaubte fest an das, was sie sagte.
»Wenn ich verschwinde, wird er dich töten!«, behauptete Johanna und äußerte bewusst den schlimmstmöglichen Fall. Einen realistischen, wenn auch schwarzmalerischen Fall.
Gretchens Augen wurden tellergroß, aber der Widerspruch kam ohne Verzögerung: »Niemals!«
»Du vergisst, dass wir eigentlich Gefangene sind! Hätten wir einen offensichtlichen Wert, würden wir nicht die Freiheit zugesprochen bekommen, uns im Lager zu bewegen. Und hielte man uns nicht für ungefährlich, hätte man uns sicherlich ausgeraubt und beseitigt.«
Sie presste die Lippen aufeinander, denn die Freundin schüttelte vehement den Kopf. »Nein! Du irrst! Wulf ist ein wundervoller Mann!«
»Er macht sich über Schwächere lustig! Er ist hinterhältig und gemein! Ein Lügner!«
»Nein!« Gretchen blieb verstockt. Sie schlang die Arme um die Mitte. »Er ist ein guter Mann.«
Johanna ballte frustriert die Fäuste und richtete ihren Blick in das dichte Blätterdach. Gretchen war eine Närrin und wollte nicht zur Vernunft kommen, und Johanna hatte einfach keine Zeit für fruchtlose Diskussionen. Vielleicht war es bereits zu spät, Samantha zu retten, aber vielleicht konnte sie ihren Onkel dazu bringen, nachträglich einzuschreiten. Jeder Moment, den sie nun verweilte, mochte zu Samanthas Nachteil sein, und die Schwester hatte bereits genügend schlimme Jahre hinter sich gebracht.
»Gretchen, ich flehe dich an, begleite mich. Ich fürchte um dein Wohl, aber Samantha … Ich muss gehen. Denk darüber nach. Heute Nacht komme ich zur Baracke, kurz vor dem Wachwechsel. Wenn du nicht da bist, gehe ich ohne dich.«
Johanna schlich zur Baracke. Es war eine mondhelle Nacht, und sie hatte den Umweg um das gesamte Lager gemacht, um nicht gesehen zu werden. War vorsichtig von einem Ast zum nächsten gehuscht und hatte sich nahe der Baracke wieder auf den Boden herabgelassen. Nun blieb sie im Schatten und hoffte inständig, dass Gretchen da sein würde. Sie umrundete das Gebäude, ohne die Freundin anzutreffen. Ihr Herz pochte schmerzlich, und der Hals wurde ihr eng. Sie würde ein unschuldiges Mädchen in den Händen ruchloser Räuber zurücklassen müssen. Ein Schicksal besiegeln, um ein anderes womöglich zu ändern. Tränen drückten hinter ihren Augen, und sie mahnte sich zur Ruhe. Vielleicht kam sie noch. Der Wachwechsel stand noch aus. Sie zog sich in eine dunkle Nische zurück. Bis zu diesem Moment war alles nach Plan verlaufen. Zunächst hatte sie für Chaos gesorgt. Sie hatte Hektor animiert, die anderen Pferde aufzuscheuchen, und schließlich waren sie so schreckhaft, dass ein schriller Pfiff sie ausbüxen ließ. Sie rissen die leichte Palisade runter und galoppierten in alle Richtungen davon. Einige wurden schnell wieder eingefangen, andere waren bis zur Dämmerung nicht auffindbar. Johanna hatte nach Hektor suchen dürfen und ihn wie erwartet schnell aufgetrieben. Ihr Pferd wartete nun in gebührendem Abstand auf ihre Rückkehr.
Einer der Wachen trat aus dem Schatten der Baracke keinen Schritt von ihr entfernt, er sah sich um und schlenderte weiter. Von der anderen Seite eilte ein weiterer Mann auf die Baracke zu, entschuldigte sich bei dem Schlendrian und übernahm dessen Runde. Johanna verließ ihre Nische. Gretchen würde nicht kommen. Dennoch machte sie noch eine langsame Runde um das Gebäude, bevor sie sich wieder in die Sicherheit der Bäume flüchtete. Sie blieb über dem Boden, bis sie den Fluss erreichte. Hektor wieherte leise zur Begrüßung, und Johanna legte die Arme um seinen Hals. »Jetzt sind wir wieder allein«, murmelte sie, während Tränen ihre Wangen nässten.
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