»Warum? Was ist das für eine Aufgabe? Verschachert ihr uns an irgendeinen Harem?« Ihre Stimme zitterte leicht, und sie hasste sich dafür, diese Schwäche zu zeigen.
»Das wirst du an unserem Ziel erfahren. Es steht mir nicht zu, dich aufzuklären. Aber ich kann dich immerhin beruhigen, dass kein Harem auf dich oder Marina wartet.« Bei den letzten Worten verzog er die Lippen zu einem amüsierten Lächeln, das sie wütend machte. Hilflos ballte sie die Hände.
Ein leichter Wind strich über ihr Lager hinweg. Die Flammen loderten auf und Funken stoben in den Himmel, als wollten sie einen Platz zwischen den Sternen einnehmen. Targon schloss die Augen und lehnte sich entspannt an einen Felsen. Das Feuer ließ sein Gesicht dunkelrot aufleuchten und verlieh ihm für einen flüchtigen Moment etwas Diabolisches.
Unschlüssig, was sie tun konnte oder sollte, saß Hannah da und beobachtete ihn. Mit jedem ruhigen Atemzug, den er tat, spürte sie Hass in sich aufsteigen, der ihre Angst in den Hintergrund schob. Wie konnte er die Frechheit besitzen und die Augen schließen. Hatte er keine Angst, dass sie versuchen konnte zu fliehen?
Aber wohin sollte sie fliehen? Ratlos fuhr sie mit den Händen über den Boden und stieß gegen einen Stein. Er war etwa doppelt so groß wie ihre Faust. Vorsichtig warf sie einen Blick auf Targon, der inzwischen zu schlafen schien. Voller Grimm umschlossen ihre Finger den Stein, der immer noch die Wärme des Tages ausstrahlte. Ein einziger gut gezielter Schlag auf den Kopf und Targon würde lange genug schlafen, um ihr die Gelegenheit zur Flucht zu geben. Entschlossen wog sie den Stein in ihrer Hand und taxierte die Entfernung. Sie war eine gute Werferin, die Entfernung war nicht wirklich groß und das Ziel gut beleuchtet vom Schein des Feuers.
»Das würde ich nicht tun.«
Hannah erstarrte. Der kleine Stein war plötzlich schwer wie ein Felsen, der ihre Hand bewegungsunfähig zu Boden drückte.
Targon hatte die Augen geöffnet und sah sie mit mildem Tadel an.
»Du würdest keine Stunde ohne mich überleben.«
»Was kann schon so schwierig sein? Der Weg hierher war nicht dramatisch aufregend, weißt du? Ich habe schon immer einen guten Orientierungssinn gehabt. Wenn ich nicht ganz falsch liege, sind wir doch fast ausschließlich nach Süden geritten. Also reite ich bei Morgengrauen einfach aus dem Flussbett heraus und nehme den gleichen Weg wieder zurück.«
»Es gibt für dich keinen Weg zurück.«
Hannah schluckte. So, wie er es sagte, klang es wie eine Tatsache, wie eine zutiefst beunruhigende noch dazu; wenn ihr auch das leichte Mitgefühl in seiner Stimme nicht verborgen geblieben war. Aber warum sollte er ein schlechtes Gewissen haben? Sicher war das hier nicht seine erste Entführung. Dafür war alles zu geschickt eingefädelt gewesen.
Kraftlos öffnete Hannah ihre Hand und ließ den Stein los, der über den Boden rollte und nach wenigen Zentimetern liegenblieb. Er konnte genauso wenig aus eigener Kraft fort, wie sie selbst. Kein Weg zurück! Die Worte hallten durch ihren Kopf und hinterließen doch nicht viel mehr als Ratlosigkeit und Leere. Kein Schrei füllte ihre Lungen und keine Tränen ihre Augen. Sie saß einfach da und konnte nicht fassen, was das Ausmaß dieser Worte ihr sagen sollte. Dennoch, spätestens morgen Abend würden Amira und Emma sich Sorgen machen.
»Das ist doch Wahnsinn!«, sagte sie daher. »Unsere Freundinnen werden uns als vermisst melden. Amiras Onkel wird die Polizei alarmieren. Du solltest mich zurückbringen, bevor sie uns finden und dich gefangen nehmen. Ein Aufenthalt in den Gefängnissen hier ist bestimmt nicht sonderlich angenehm.«
»Sie können uns nicht finden.« Jetzt lächelte er, doch plötzlich richtete sich Targon auf. Wäre er ein Tier gewesen, hätte er wahrscheinlich die Ohren gespitzt und geknurrt. Doch so ging eine sichtbare Anspannung durch seinen Körper. Aufmerksam legte er den Kopf auf die Seite und lauschte in die Dunkelheit, in der sie nichts außer dem leisen Prasseln und Knistern des Feuers wahrnahm. Doch irgendetwas schien Targon zu beunruhigen. Demonstrativ legte er einen Finger über seine Lippen, während er vollkommen lautlos aufstand und zu ihr herüberkam. Augenblicklich klopfte ihr Herz warnend, und Angst machte sich in ihr breit. Was hatte er vor? Vielleicht war bereits ein Suchtrupp unterwegs, der nach Marina und ihr fahndete? Vielleicht hatte man den Sandsturm auch im Hotel bemerkt? Dann lag die Wahrscheinlichkeit nahe, dass man doch nach ihnen suchte. Doch noch bevor sie den Mund zu einem Schrei öffnen konnte, war Targon bei ihr und verschloss ihr – woher hatte der Mistkerl das geahnt? – den Mund mit seiner großen Hand, die nach Schweiß und Staub schmeckte.
»Wenn du auch nur einen Funken Verstand hast und an deinem Leben hängst, gibst du keinen Mucks von dir!«, zischte er direkt an ihrem Ohr. Ein eiskalter Schauer ging auf ihrer Kopfhaut nieder und lief über ihren Rücken hinunter. Himmel! Erst die Freiheit, dann das Leben?
»Ich nehme die Hand gleich wieder weg und werde nach dem Rechten sehen. Du versteckst dich dort drüben zwischen dem Felsen und der Flusswand. Sollte ich nicht mehr zurückkehren, bleib dennoch dort. Man wird dich dort finden und in Sicherheit bringen. – Wenn du mich verstanden hast, dann nicke jetzt.«
Wie ein Blitz huschte der Gedanke durch ihren Kopf, ihm einfach in die Hand zu beißen. Doch so schnell wie er aufgetaucht war, so schnell war Hannah bewusst, dass es eine blöde Idee war, solange sie nicht wusste, warum er so vorsichtig war. Entschlossen, die erste beste Gelegenheit zur Flucht zu nutzen, wenn er nach dem Rechten sah, nickte sie. Beschämt bemerkte sie dabei, dass seine Handinnenfläche nass von ihrem Sabber war.
»Gut«, sagte er, löste die Hand und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden wie ein Schatten, der einfach nur dorthin zurückkehrte, wo er naturgemäß auch hingehörte.
Dankbar atmete Hannah die frische Luft ein und wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Lippen. Doch den staubigen Geschmack, den seine Hand hinterlassen hatte, wurde sie so nicht los. Sie musste dringend etwas trinken. Die Wasserflasche befand sich an ihrem Sattel, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo die Pferde waren.
Wütend, aber vorsichtig in alle Richtungen spähend, ohne, dass sie wirklich etwas außer in ihrer unmittelbaren Umgebung wahrnahm, ging sie langsam zu dem Felsen hinüber. Als sie sich in den Spalt zwischen Felsen und Flusswand schob, hoben sich zwei dunkle Köpfe, die ihr neugierig entgegensahen. Darauf hätte sie auch selbst kommen können, dass er die Pferde bereits hier versteckt hatte. Erleichtert darüber, nicht mehr völlig allein zu sein, tätschelte sie die beiden Tiere und kramte die Wasserflasche hervor, aus der sie nur wenige Schlucke nahm, um nicht zu viel von dem Wasser zu vergeuden. Dann ging sie zu Radscham und durchwühlte die Satteltaschen. Sie fand zwei weitere gut gefüllte Wasserflaschen, die sie zufrieden in ihrer eigenen verstaute. Entschlossen ergriff sie die Zügel der kleinen Stute und führte sie aus dem Spalt heraus. Sie würde jetzt nach Hause reiten. Es gab immer einen Weg zurück. Und wenn sie das Hotel erreichte, würde sie als erstes einen Suchtrupp für Marina organisieren.
Überzeugt von der Durchführbarkeit ihres Plans, schwang sie sich in den Sattel. Ohne einen Blick darauf zu verschwenden, ob Targon sie vielleicht beobachtete, trieb sie die Stute Kimon an. Ihr Mut war nur begrenzt, und wenn er jetzt vor sie trat, wusste sie nicht, ob sie ihn nicht ganz verlor. Mit einem Schnalzen bohrte sie ihrem Reittier die Fersen in die Seiten, das verwirrt lostrabte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, aus dem Stand loszugaloppieren, aber die Stute war offensichtlich klüger als sie selbst und wählte einen Trott, in dem sie nicht Gefahr lief, in der Dunkelheit zu stolpern.
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