Gleich haben sie mich, schoss es Hannah kristallklar durch den Kopf. Ihr Blick nach vorne zeigte ihr zwar, dass sich von vorne eine große Staubwolke näherte, in der sie bereits einzelne Reiter erkennen konnte, doch sie würden sie nicht mehr rechtzeitig erreichen. Schräg von vorne schoss ein Reiter auf sie zu, der nur noch wenige Galoppsprünge von ihr entfernt war. Er kam in einem spitzen Winkel, dadurch ritt Hannah ihm genau in die Arme. Entschlossen zerrte sie an den Zügeln und rammte Kimon, die Fersen in die Seite, um dem Angreifer auszuweichen. Die Stute schlug widerspenstig mit dem Kopf, dass die Zügel ihren schmerzenden Fingern entglitten. Hannah schloss entsetzt die Augen, riss sie aber sofort wieder auf. Was, wenn Kimon sich in den Zügeln verhedderte? Entschlossen beugte sie sich so weit wie möglich auf und hangelte nach den Zügeln, bis sie das Leder endlich zwischen den Fingern hielt. Gleichzeitig registrierte sie, wie nahe der Angreifer jetzt war. Entsetzt hielt sie den Atem an, als er sein Krummschwert über seinen Kopf hob und zum Schlag ausholte. Jeden Augenblick musste er sie damit treffen. Doch da schoss wie ein Blitz Targon nach vorne. Tief über den Hals Radschams gebeugt ritt er auf den Angreifer zu und rammte ihn in vollem Galopp.
Hannah schrie aus Leibeskräften, als beide Pferde aufeinanderprallten. Das Klirren der Schwerter und das schmerzvolle Wiehern der Pferde erfüllte die Luft, als beide Tiere samt Reiter in einem wirbelnden Durcheinander aus Mensch und Tier übereinander rollten. Targon! Hannah schnappte verzweifelt nach Luft. Sie war so betäubt, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Gruppe der entgegenkommenden Reiter sie erreichte, ein Mann geschickt die Zügel von Kimon ergriff und ihren Lauf abbremste, bis sie in einen langsamen Trab fiel, dann in Schritt, um schließlich mit hängendem Kopf und bebenden Flanken stehen zu bleiben. Von beiden Seiten schoben sich jetzt Reiter neben sie, während sich eine andere Gruppe löste und an ihr vorbeijagte. Hannah war völlig erschöpft und unendlich dankbar, als Kimon endlich stand. Sofort drehte sie sich im Sattel herum und hielt nach Targon Ausschau.
Die Reiter, die an ihr vorbeigesprengt waren, versperrten ihr die Sicht. Nur beiläufig bemerkte sie, dass die restlichen Angreifer bereits die Flucht angetreten hatten. Es interessierte sie nicht. Ihr Herz schlug dumpf bis in ihre Kehle hinauf, während sie darauf wartete, irgendetwas erkennen zu können. Die Augenblicke tropften zäh und endlos dahin, in denen zuerst Targons Pferd langsam zwischen den Reitern erschien. Hannahs Herzschlag setzte aus, doch dann jubelte sie hemmungslos auf, als sie eine schwarz gekleidete Gestalt erkannte, die sich hinter einem Reiter in den Sattel schwang und gemeinsam mit der gesamten Gruppe auf sie zukam.

Der Mann lehnte sich erleichtert zurück und atmete auf. Targon ging es gut.
Von Neugier getrieben, mehr über die Vergangenheit Targons zu erfahren, blätterte er wieder zurück. Er überflog die schwungvolle Schrift und las, wie Targon von Maruk zu einem Krieger ausgebildet wurde. Immer wieder wunderte er sich darüber, dass Maruk dies heimlich tat. Nahezu täglich schlichen sie sich aus der Burg, um unbeobachtet im Garten zu trainieren. Targon wurde zu einem lautlosen und schnellen Schatten, der seinen Gegner niederrang, bevor dieser ihn überhaupt wahrnahm. Das Band, das beide miteinander verband, wurde von Seite zu Seite enger.
Ein dumpfes Gefühl breitete sich in dem Mann aus. Welchen Zweck verfolgte Maruk? Von Sorge getrieben blätterte er weiter, bis er sich in den Zeilen verlor:
Targon hockte in einem dichten Haselnussstrauch, den Blicken jedes zufälligen Beobachters verborgen, und sah mit zusammengekniffenen Augen auf das Gehöft, das sich unterhalb seiner Position in ein langgestrecktes grünes Tal schmiegte. Die Sonne hatte sich noch nicht über die sanften Berge erhoben, doch ein feiner Strahlenkranz schob sich bereits in den Himmel, als kundschaftete er den Weg aus. Der Morgendunst zerteilte sich unter der Kraft der Strahlen, verflüchtigte sich und ließ die vereinzelt daliegenden Gehöfte unwirklich erscheinen.
Targon seufzte schwer. Das Bild war von so unglaublicher Friedlichkeit, als könnte nichts diesen Tag beschmutzen. Und doch war ausgerechnet er selbst derjenige, der diesem Tag seinen Stempel aufdrücken würde und ihn bereits in diesen frühen Morgenstunden mit seinem Vorhaben verdarb. Mit leicht zitternden Fingern wischte Targon sich über die Stirn. Trotz der frischen Luft war ihm heiß. Sein Magen knurrte fürchterlich, aber er hatte in Anbetracht seines Auftrages keinen einzigen Bissen hinunterbekommen.
Sein erster Auftrag! Targon spuckte wütend auf den Boden zu seinen Füßen. Das war also das Vermächtnis Maruks. Dafür hatte er ihn all die Jahre so gründlich ausgebildet, damit er nahtlos in seine Fußstapfen treten konnte, wenn er sich auf und davon machte. Die Wut trieb Targon noch mehr Hitze ins Gesicht. Er fühlte sich verraten. Maruk hatte wissen müssen, was der König mit ihm vorhatte und hatte es ihm verschwiegen. Genau, wie er ihm sonst auch alles von sich selbst verschwiegen hatte.
Mit zitternden Fingern überprüfte er den Sitz der Dolche in seinen Unterarmmanschetten zum wiederholten Male. Doch alles war, wie kurz zuvor, so wie es sein sollte.
Natürlich. Wie sollte es auch anders sein? Targon schnaubte bitter auf. Maruk hatte ihn konditioniert wie einen Hund. Alles war in Fleisch und Blut übergegangen. Selbst im Schlaf griff er blitzschnell nach seinen bereitliegenden Waffen, als gäbe es für ihn keinen sicheren Moment. Und den gab es auch nicht mehr. Nicht für ihn und nicht für die Personen, deren Namen in des Königs Aufträgen genannt wurden.
Targon streckte die Hände von sich und betrachtete sie. Ob Maruk jemals gezittert hatte? Sicher nicht, Maruk war nichts anderes als ein Killer gewesen. Sein Herz zog sich verkrampft zusammen, und er ließ die Hände wieder sinken. Es hatte keinen Sinn, länger darüber nachzudenken. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Der Hof lag immer noch verschlafen da, die Gelegenheit konnte günstiger nicht sein. Entschlossen erhob er sich aus seinem Versteck und huschte, die Schatten der umliegenden Bäume und Sträucher für sich nutzend, in das Tal hinab. Kein Geräusch war zu hören, nur der dumpfe Schlag seines Herzens. Als er sich mit dem Rücken an die Wand des Stalles lehnte, ließ seine Unruhe nach. Seine von Maruk trainierten Instinkte gewannen die Oberhand, und seine Gefühle sanken in unbekannte Tiefen, von wo sie keine Macht mehr auf ihn ausübten.
Aus dem Stall drang leises Gegacker, und ein schmaler Lichtstrahl fiel durch eine Ritze der hölzernen Wand. Targon tastete sich vorsichtig daran entlang, bis er vor der halboffenen Tür stehenblieb. Konzentriert lauschte er. Die Geräusche erzählten ihm von dem Leben im Stall. Die Tiere erwachten langsam und ein Klappern verkündete, dass jemand bei ihnen war.
Der Bauer war bereits bei der Arbeit.
Targon griff nach einem schlanken Wurfmesser und spähte durch die Tür. Jemand stand zwischen den Kühen, die nebeneinander aufgereiht in schmalen Ständern standen und ihm das Hinterteil entgegenstreckten. Beruhigendes Gemurmel drang zwischen den Kühen hervor. Targon konnte nicht erkennen, wer dort stand. Lautlos huschte er in das Innere und duckte sich in einen leer stehenden Ständer. Der Geruch von frischem Stroh kitzelte in seiner Nase. Ein Pony schnaubte leise von nebenan, als es ihn neugierig beäugte. Nach wenigen Augenblicken wandte es sich wieder seinem Heu zu. Inzwischen hatte der Bauer mit dem Melken begonnen. Ein rhythmisches Zischen ertönte, als der warme Strahl in den Eimer traf. Jetzt war der richtige Augenblick. Der Bauer war in seine Arbeit vertieft. Targons Finger schlossen sich fester um den Griff des Wurfmessers. Dann verließ er sein Versteck und ging auf leisen Sohlen auf die Kühe und den Bauern zu. Keinen Moment länger würde er noch warten können. Er musste dies hier einfach hinter sich bringen.
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