»Ahm, was ist das da?«
»Katheter, Blasenkatheter. Sie kann nicht mehr selbst pinkeln, gell, alte Leute«, brummt Erhard, wieder die Wange der alten Frau anfassend. Das muss so eine Art Standard-Geste sein. Dann nimmt der den Beutel, trennt ihn und ein Stück Schlauch ab, geht zum Waschbecken und entleert den Beutel dort. Als der Urin zu seiner Zufriedenheit plätschert, wendet er sich wieder mir zu. Offensichtlich fällt selbst ihm, dem abgefeimten Routinier, auf, dass er für sein Handeln eine Erklärung abgeben muss: »Die Pflegeversicherung zahlt nicht genug, weißt du. Die Ärzte verschreiben auch nicht genug, deshalb müssen wir die Beutel öfter verwenden. Ist auch nicht weiter schlimm, hat noch keiner eine Infektion bekommen.«
Das sagt mir gar nichts, doch zerstreut seine Argumentation meine Bedenken nicht gerade. Kraft der Bemühungen der elterlichen Erziehung pinkelt man seit einigen Jahrzehnten nicht mehr ins Waschbecken. Warum sollte man eine Ausnahme machen, nur weil der Eigentümer die Suppe nicht mehr persönlich übergibt? Stellt sich nur noch die Frage nach dem wahren Grund. Erhard spült derweil ungerührt den leeren Beutel noch einmal kurz und unvollständig mit Leitungswasser durch und stöpselt ihn wieder an den Schlauch. Frau Leute scheint dies nicht so sehr viel auszumachen, sie verzieht dankbar das Gesicht, als sich die Decke wieder bis zum Kinn auf sie legt. Der Pfleger räumt die kaum feucht gewordenen Textilien zusammen, und schließt seine Aktivitäten in diesem Raum dadurch ab, dass er jeder Frau einen Schluck Wasser reicht, aus Gläsern, die bereits gefüllt waren, als wir diesen Raum betraten. Allerdings müssen sie ursprünglich deutlich mehr Flüssigkeit enthalten haben, ganz oben unterhalb der Ränder zeichnen sich wie Baumringe mehrere konzentrische Kreise mit kalkigen Ablagerungen ab.
Dann stehe ich wieder draußen auf dem Flur. Erst hier kommt mir irritiert die Erkenntnis, dass der Pfleger das Waschwasser gar nicht gewechselt hat und sich darüber auch nicht den Kopf zerbrechen wird.
»Na, war doch gar nicht so schlimm«, spricht mich Erhard unvermittelt an, ich schrecke aus meinen Überlegungen hoch. Er blickt mich gar nicht an, redet wohl mit mir in der gleichen abwesenden Weise wie mit den Frauen. Es bleibt keine Zeit, denn die nächste Tür ist nah. In diesem Moment zähle ich nach einem kurzen Rundblick zusammen und komme zu der Erkenntnis, dass wir sehr lange diese Arbeit werden tun müssen, denn der Flur ist verflucht lang, viele Türen warten noch darauf, geöffnet zu werden und außer uns beiden läuft niemand sonst hier herum. Wenn ich recht gesehen habe, dann besteht dieses Haus aus drei Etagen. Aufgeteilt auf die wenigen Leute, die heute morgen in dem kargen Aufenthaltsraum saßen, ergibt das ein ziemlich schlechtes Verhältnis. Ein Angestellter pro Flur. Mir schwant unvermittelt, dass ich mir die Arbeit des Pflegers sehr gut ansehen sollte. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, dann stehe ich eines morgens mutterseelenallein auf so einer Etage. Upps, da schleicht sich doch ein optimistischer Gedanke in mein Hirn. Sofort verdränge ich ihn. Nach Lage der Dinge gilt es noch lange nicht als sicher, dass ich länger als diesen einen Tag hier überlebe.
An meiner beschissenen Situation hat sich schließlich noch nichts geändert und im Ergebnis nützt es mir rein gar nichts, dass hier andere Menschen leben, die noch etwas beschissener dran sind. Habe ich gerade >leben< gedacht?
Erhard kippt die Schüssel im Waschbecken des kleinen Kabuffs aus, in dem auch die ganze Wäsche lagert. Nicht uninteressant finde ich in dem Zusammenhang die Frage, warum er im Zimmer der alten Leute den Urin ins dortige Becken kippt, nicht aber das Waschwasser. Rituale werden wohl erst durch ihre Unverständlichkeit richtig schön. Wie ein Ölgötze mitten auf dem Flur stehend beobachte ich seine Handlungen, sehe, wie er an mir vorbei zu dem zweiten Zimmer geht, wie er stockt, weil ihm einfällt, dass er vielleicht doch neue Handtücher braucht und fluchend wieder an mir vorbei marschiert, um Nachschub zu holen. Ich freue mich ein bißchen, weil ich zum ersten Mal im voraus weiß, was als nächstes nötig ist. Dabei handelt es sich um reines Raten. Hätte ja auch gut sein können, dass er die gleichen Handtücher öfters benutzt als das Waschwasser. Was weiß ich denn schon? Viele Leute lehnen diese Tätigkeit kategorisch ab, mit den Worten >das könnte ich nie<. In diesem Augenblick bin ich selbst der festen Überzeugung, es nie zu können.
Und doch, es gibt einen kleinen aber entscheidenden Unterschied zwischen mir und den anderen Leuten: ich habe keine Wahl! Ich muss hier meinen Job machen, komme da, was da wolle. Wird es wohl auch. Erhard stapft wieder an mir vorbei in Richtung Pflegezimmer, und endlich komme ich in den zweifelhaften Genuß, die nächsten zwei alten Damen kennen zu lernen. Seit ein paar Jahren ist mir bekannt, dass es immer etwas Schlimmeres gibt als das augenblicklich Erlebte. Nun entdecke ich langsam, dass zwischen der theoretischen Erkenntnis und dem praktischen Erleben Welten liegen.
Auf dem Landratsamt-Schild steht diesmal >Maria Kadner< und >Maria Gaccia<. Kurze Zeit später wünsche ich mir, auf dem Schild wäre statt dessen oder zusätzlich eine deutliche Warnung verzeichnet gewesen. Es beginnt einigermaßen harmlos, obwohl es mir in diesem Moment nicht so vorkommt, erst im nachhinein wird mir in der rückwärtigen Betrachtung der ersten Eindruck von diesem Zimmer als geradezu läppisch erscheinen. Beim betreten fällt mir zuerst nur der Geruch auf, besser gesagt, der Gestank. Er ist gänzlich anders als im ersten Zimmer. Es riecht diesmal nicht furchtbar nach Kot und Urin, diesmal riecht es furchtbar nach Verwesung, Fäulnis, mithin nach allem, was ich bisher nur aus wochenlang vernachlässigten Bio-Tonnen kannte. Ja, das trifft es ungefähr, auch diese Erkenntnis hilft mir nicht unbedingt. In dem Zimmer sieht es ansonsten ebenso harmlos und trist aus wie in dem anderen mir bereits bekannten Raum. Zwei alte, verdorrte Frauen liegen parallel zueinander in ihren Betten und rühren sich nicht. Auch sonst wirkt das Zimmer wie geklont, jedes Detail stimmt exakt mit dem anderen Zimmer überein, wenn es diese Schilder nicht gäbe, man könnte sich verlaufen. Sind möglicherweise alle Zimmer gleich? Sehen alle alten Leute in diesem Etablissement gleich aus?
Tun sie nicht, aber anders als erwartet. Die Zimmer mögen gleich sein, die Frauen gleich aussehen, in der gleichen Position still im Bett liegen, sogar die Lage der Bettdecke ist identisch, die Wahrheit befindet sich unter dieser Decke. Erhard schlägt in nun schon gewohnter Entschlossenheit bei der ersten Frau die Decke weg, der Gestank wird schlimmer, viel schlimmer. Gut, dass ich nichts gegessen habe. Auf die Seite drehen, Windel runter, das flüchtige waschen, ich bleibe auf meiner Beobachtungs-Position, sicher ist sicher, ich möchte den Grund für den Geruch wirklich nicht erfahren, schon mal gar nicht mit eigenen Augen sehen. Der Pfleger denkt anders darüber. Er lächelt mich versonnen an und ich erkenne den Grund für sein langes suchen im Bad. Aus der Waschschüssel holt er eine Vielzahl von Einzelteilen hervor, alles medizinischer Kram, Salben, Tinkturen, Verbände. Er nimmt sie, sieht mich an, er sieht mich tatsächlich an, gerade in diesem Zimmer kann ich darauf gut verzichten, denn es kommt wie es kommen muss: er winkt mich heran:
»Hier, kannst dir das ansehen, mir was helfen.«
Wie man sieht reichen auch einsilbige Erklärungen, um einen Schrecken auszulösen. Das Grauen lauert in diesem Bett, ich ahne es, ich spüre es. Wenn ich auch sonst nicht sonderlich sensibel bin, hierbei schlagen meine dürftigen Sinne Alarm. Die Möglichkeit der Flucht ist aber sein fünfzehn Minuten per du. Ich gehe also heran, schön langsam, vielleicht schlägt ja der Blitz ein und wir müssen schnell noch ein Feuer löschen. Am Fußende angekommen erkenne ich noch einen Unterschied. Diese Frau schließt die Augen nicht, sie hat sie im Gegenteil weit aufgerissen. Ob sie wirklich etwas bestimmtes ansieht, bleibt jedoch fraglich. Ich stelle mich neben Erhard, die Frau wendet das Gesicht ab, was meinen Blick freigibt. Von unsichtbarer Hand geleitet, fast unter Zwang, gleitet er tiefer, hin zu ihrem Gesäß, da ist etwas, was mich magisch anzieht. Ein Loch, ein rotes, lebendes Loch. Über der Gesäß-Falte, dort, wo das Steißbein sitzt, dort sitzt immer noch das Steißbein. Nur, bei dieser Frau kann ich es sehen. Keine Haut, kein Fleisch, blanker Knochen. Unwillkürlich drängt sich mir das Bild eines abgenagten Eisbeins auf. Nur, um mich von der mich schlagartig anspringenden Übelkeit abzulenken, sinniere ich eine Sekunde darüber, dass die Kids sich doch besser dies hier anschauen sollten. Die blutigen Ballerspiele am PC würden von der Realität, echter gesehener und gerochener Realität, vollständig in den Schatten gestellt. Dann würden sie es nicht mehr cool finden, Leute in Stücke zu ballern. Eine Runde kotzen und alles wäre im Lot. Kotzen, gut ich habe fast nichts gegessen, die Relevanz dessen schwindet angesichts der Details. Dieses Loch ist tief, es ist rot, es ist eitrig, es ist blutig, es... lebt! Ich sehe zweimal hin, mein erster fahriger Eindruck hat also nicht getrogen. Ich brauche eine Erklärung, sonst glaube ich noch, in einem Film zu spielen.
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