Normalerweise mache ich ein wenig Aufklärung, bevor ich mich in Unbekanntes stürze, zum Beispiel so etwas wie eine neue Stelle. Ich hasse es, ins Unbekannte zu laufen. Um einen Zipfel von Sicherheit zu erhaschen, gehe ich für gewöhnlich ein paar Tage vorher hin, sehe mir alles an und bin auf diese Weise im Bilde, wohin und auf welchem Wege ich mich zu wenden habe. Vordergründig bilde ich mir ein, Fluchtwege auszukundschaften. Ich leide schon an einigen Paranoia, bei dieser handelt es sich um eine sarkastische Paranoia. Normale Menschen würden messerscharf analysieren, dass ich mir was vormache. Ich hasse es aber, wenn ich mir was vormache. Ich wälze nicht umsonst Tonnen von Gedanken, um alles und jedes zu bedenken. Da paßt Selbstbetrug nicht ins Bild. Vermutlich mache ich mir gerade vor, mir nichts vorzumachen. Mein Problem löse ich dadurch nicht. Zu meinem Unglück konnte ich mir dieses Haus und seine Fluchtwege, um bei meiner Paranoia zu bleiben, diesmal nicht ansehen. Ich habe mich schriftlich beworben, was ich bereits unmittelbar nach Einwurf in den Briefkasten bereute, und gestern erst kam die Zusage, ebenfalls schriftlich. Keine Zeit für Aufklärung, da die Post erst um 15.00 Uhr kommt, und ich den Brief auch erst am abend öffnete. Ich ging davon aus, eine Absage in Händen zu halten, da der Briefumschlag in DIN A4 vermuten ließ, meine Bewerbungsunterlagen zu enthalten. Als ich ihn dann doch beiläufig öffnete, fielen mir verschiedene Fragebögen entgegen. Und die Aufforderung, heute zum Frühdienst zu kommen. 6.00 Uhr. Im Vorausahnen von Briefinhalten bin ich nicht so toll. Das tröstet mich überhaupt nicht, fällt doch diese Art des daneben liegen unter die Rubrik >Versager<. Ich verfüge nicht nur über eine beeindruckende Anzahl unnützer Talente, mir fehlen auch solche, die ich dringend brauchen könnte. Heute. Jetzt. Zum Beispiel ein wenig Mut. Selbst wenn es den zu kaufen gäbe, ich habe gar kein Geld. Und keine Zeit. Mut ziert auch den Mamelucken, sagte mein Geschichtslehrer früher. Der war auch feige. Mehr oder weniger entschlossen schiebe ich meine Gedanken beiseite und öffne die Tür. Schon stehe ich im Treppenhaus und bin damit auch nicht weiter als zuvor. Ich sehe mich um und versuche dabei, einen klaren Kopf zu bekommen. Angst schränkt das Gesichtsfeld ein. Erst jetzt sehe ich die Pförtnerloge zu meiner Rechten. Zum Glück leer, sonst gäbe es jetzt bereits einen Beschäftigten in diesem Laden, der von meinem kopflosen Geglotze berichten könnte. Also weiter suchen.
Vor mir eine weitere Tür, links daneben ein Treppenhaus, genau in der Größe, die man für gewöhnlich in mittleren Mietshäusern antrifft. Ganz links noch eine Tür. Warum sind hier alle Türen aus Milchglas? Egal, ich höre etwas. Durch die linke Milchglastüre dringt Gelächter. Hartes, meckerndes, lautes Gelächter. Hat mich doch einer gesehen? Alle Vermutungen nützen nichts, ich muss jetzt durch diese Türe gehen, wenn ich in den nächsten Minuten einen lebenden Menschen treffen will. Ich will zwar nicht, öffne aber dennoch die Türe. Erstaunt bemerke ich den starken Widerstand. Die Tür läßt sich nur mit viel Kraft dazu bewegen, mich hindurch zu lassen.
Dahinter finde ich mich in einem langen Flur wieder. Auf so einen Flur freut sich keiner. Lang und nicht sehr breit, der Boden mit einem dunklen speckigen Linoleum ausgelegt, die Wände mit rotem Backstein erbaut. Wie im Keller meiner Eltern, schießt es mir durch den Kopf. An der Decke erkenne ich in regelmäßigen Abständen viereckige Plastikverkleidungen, hinter denen jeweils vier kurze Neonröhren ein unfreundliches kaltes Licht verbreiten. Ich kenne diese Art der Beleuchtung. Sitze ich im Behandlungsstuhl meines Zahnarztes, fixiere ich zu meiner Ablenkung eine baugleiche Leuchte. Ich bin oft dort, diese Art Lampe verfolgt mich in meinen Träumen. Sehe ich eine solche Lampe, spüre ich einen Hauch von Erinnerung an den langsamen Bohrer. Der, mit dem unter infernalischem Vibrieren die Bohrlöcher in den Zähnen abgerundet werden. Großartig. Ich hatte also mal wieder Recht. Es geht schon los mit der Katastrophe. Irgendwie lenkt mich diese Überlegung von meinem Klumpen ab, der meinen Brustkorb ausfüllt, wodurch ich in die Lage versetzt werde, mich zu bewegen. In der Drehung gewahre ich noch das einzige Fenster, klein und wenig erhellend an der Stirnseite des Flures gelegen. Dann stehe ich vor der nächst gelegenen Tür neben dem Zugang aus Milchglas. Hinter dieser Tür wurde bis vorhin noch gelacht. Auch jetzt dringen Stimmen aus dem Raum, wenn auch wesentlich gedämpfter. In einem seltenen Moment ohne Überlegungen und Abwägungen öffne ich die Tür und stehe im Nebel. Hier wird geraucht, was die Lunge hergibt, der Raum ist mit dicken Qualmwolken verhangen. Ein Zimmerbrand könnte keine stärkere Verqualmung bewirken. Immerhin erkenne ich die wesentlichen Details. Ein quadratischer Raum von beeindruckender Tristesse, weiße Wände ohne Bilder oder andere Auflockerungen, der gleiche Boden wie im Flur und neben mir an der Tür ein schlichtes Waschbecken. Mitten drin in diesem Nichts ein langer Tisch mit einer Anzahl billiger Holzstühle, die aussehen, als stammen sie aus der Entrümpelung einer Behörde, die endlich das Mobiliar aus der Vorkriegszeit loswerden wollte. Das entscheidende spielt sich allerdings auf den Stühlen ab. Frauen! In halb durchsichtigen Kitteln.
Die nächste Minute vergeht ungeheuer langsam. Die Anwesenden mustern mich und ich sehe mir die Leute auf den Stühlen an. Naturgemäß fällt mein erster Blick auf die Blondine. Sie ist klein und sehr propper, was wegen ihres geringfügig zu knappen weißen Kittels ziemlich auffällt. Die fast weißen Haare kontrastieren stark mit der von zahlreichen Besuchen auf der Sonnenbank dunkel gebräunten Haut. Sie ist sicher nicht älter als ich, und sie schaut mich mit einer Mischung aus Frechheit und Neugierde an. Die zweite Frau wird wohl etwas älter sein, auf alle Fälle ist sie dünner und größer. Auch ihre Nase ist dünn und groß, die Augen wirken dagegen etwas zu klein und zu nahe beieinander stehend. Sie hat die Zigarette im Mundwinkel und schält mit bloßen Händen eine Apfelsine, während sie zu mir herüber sieht. Die dritte Frau betrachtet mich zwar, verleiht ihrem Blick jedoch erkennbar einen Ausdruck völligen Desinteresses. Sie verfügt über lange, schwarze Haare, und in ihrem etwas hageren Gesicht verläuft eine fahl schimmernde Narbe von der Nasenwurzel zum Jochbein. Die braunen Augen werden von starken kosmetischen Bemühungen umrandet und schauen unangenehm kühl. Ich fühle mich immer ganz klein, wenn eine Frau mich mit diesem >was-willst-du-Wurm-Blick< ansieht. Also weiche ich aus und auf der Suche nach Sicherheit fällt mein Blick auf einen Mann. Den habe ich doch tatsächlich übersehen. In diesem Raum ist er aber auch der mit Abstand häßlichste. Um die fünfzig, mit einiger Sicheheit darüber, mit einem Gesicht, in das sich etliche Schicksalsschläge eingegraben haben. Werde ich in zwanzig oder dreißig Jahren auch so aussehen? Wahrscheinlich nicht, gegen alle Erwartung sind die Mundwinkel nicht nach unten gebogen. Der ganze schlaksige Kerl wirkt entspannt und ausgeglichen und seine Augen strahlen eine wenn auch distanzierte Wärme aus.
Die Minute ist vorbei und der Mann öffnet den Mund: »Du bist der neue Praktikant, nicht wahr?«
Da mir niemand etwas anderes geglaubt hätte, nicke ich matt: »Ja. Oliver Römer. Ich soll mich hier melden.«
Nun nickt der Mann und erhebt sich in übertriebener Anstrengung. Derweil widmet sich die schwarzhaarige wieder irgendwelchen Eintragungen, die sie in eine auf ihrem Schoß liegende Mappe macht, und das blonde proppere Mädchen gewährt mir einen Blick auf ihre Zähne, weil sie offenherzig zu mir sagt: »Hallo, Olli. Ich bin die Angie. Wir kommen sicher gut miteinander aus.«
Da wäre ich mir nicht so sicher, trotzdem lächele ich unsicher zurück und traue mich nicht, ihr die Hand zu geben. Der Mann rückt seinen Stuhl geräuschvoll an den Tisch und grinst diese Angie an. Dann winkt er mir und beginnt, in Richtung Tür zu gehen. Da er am weitesten vom Ausgang entfernt saß, passiert er dabei die Frauen und zeigt im vorbeigehen auf die zwei, die sich noch nicht vorgestellt haben.
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