Der einzige hier vorgestellte, bei Veröffentlichung dieses Buches noch lebende Bruder Karlheinz Franke schrieb seine bewegte Lebensgeschichte auf meine Anregung für dieses Buchprojekt. Die Vorgeschichte der Brüder in Kindheit und Jugend und die familiären Details wurden nur unwesentlich gekürzt, weil sie einen sehr guten Einblick in die Zeitgeschichte geben und unbedingt mit zum jeweiligen Persönlichkeitsbild beitragen. Diese Abschnitte wurden größtenteils in kleinere Schrift gesetzt.
Es gab und gibt im Raum christlicher Caritas und Diakonie sicher Persönlichkeiten, die in ihrem Leben die Barmherzigkeit noch stärker zum Ausdruck brachten, als sie Brüdern und heute auch Schwestern des Rauhen Hauses eigen ist, etwa die in der Pflege an Schwerstbehinderten tätigen Schwestern und Brüder in Bethel. Hier stand ein von Wichern geprägter Terminus Pate für diesen Buchtitel (siehe nachfolgender Beitrag von Dietrich Sattler).
Ein besonderer Dank gilt Frau Lisa Wietholz und Herrn Egbert Kaschner (†) für die Unterstützung und das Korrekturlesen.
Hamburg, 2002 / 2014 Jürgen Ruszkowski
Dietrich Sattler: Genossen der Barmherzigkeit
Die Brüder des Rauhen Hauses und der Diakonat
Die Frage nach Herkunft und Identität des Diakonenamtes, auch nach dem Selbstverständnis der Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses führt weit in das 19.Jahrhundert und in die Anfänge des Rauhen Hauses zurück. Dabei stoßen wir auf den begabtesten Kirchenvater der neuzeitlichen Diakonie, auf Johann Hinrich Wichern, den Gründer des Rauhen Hauses und Initiator einer Brüderschaft, die in der Diakonenbewegung Schule gemacht hat. 1833 gründete er mit befreundeten Hamburger Bürgern in einer "Ruges Hus" genannten Bauernkate in Horn bei Hamburg eine Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder.
Die ersten Gehilfen
Anfangs betreute Wichern die Kinder allein. Im ersten Jahr ging ihm noch seine Mutter zur Hand. Aber es kamen immer mehr Jugendliche ins Rauhe Haus. Wichern hielt nach Gehilfen Ausschau und fand sie in christlichen Handwerkerkreisen. Der erste Gehilfe hieß Josef Baumgärtner und kam aus der Schweiz. Vier Jahre später waren es schon neun. Da die Gehilfen pädagogisch nicht vorgebildet waren, richtet Wichern bereits 1835 einen Lehrkurs ein. Aus ihm wurde in Laufe der Zeit die Brüderanstalt, zeitweise auch Gehilfen-Institut und später Brüderhaus genannt.
Die Grundidee war einfach und effektiv zugleich: Die Gehilfen arbeiteten in den Kindergruppen gegen ein Taschengeld, dafür erhielten sie freie Kost und Logis sowie kostenlos Unterricht, der sie befähigte, künftig für einen menschenfreundlichen Zweck zu wirken ("Die Begründung der Brüderanstalt im Rauhen Haus" (1839): Johann Hinrich Wichern, Sämtliche Werke, Hg. Peter Meinhold, Hamburg 1958 ff., SW 4/I S. 198). Nach ihrer Ausbildung blieben sie entweder im Rauhen Haus oder wurden in anderen Einrichtungen der Inneren Mission oder der Armenpflege tätig.
1843 beschrieb Wichern den Zweck des Gehilfen-Instituts so: „Arbeiter zu gewinnen und zu bilden für solche Gebiete des christlichen Lebens, die bis jetzt verhältnismäßig wenig angebaut sind, namentlich zunächst denjenigen christlichen Vereinen unserer Zeit, denen es bei ihren Bemühungen für die kirchliche Versorgung der jährlich sich mehrenden Auswanderer, für die Rettung der verwildernden und verwilderten Jugend, bei der Fürsorge für Gefangene so vielfach an Arbeitern gebricht, eine gewünschte Hilfe zu verschaffen ("Nachricht über das Gehilfen-Institut", 1843; SW 4/I S. 202).“
Ausbildung für einen menschenfreundlichen Zweck
Zwei Kurse richtete Wichern ein: einen vierjährigen für Hausväter und Vorsteher von Rettungsanstalten sowie für Kolonistenprediger, einen eineinhalb- bis zweijährigen Kurs für Arbeitsgehilfen in Rettungsanstalten und für Gefängnisaufseher (Vgl. zum folgenden "Nachricht über das Gehilfen-Institut" (1843); SW 4/I S.210 ff.). Der Unterricht umfasste u.a: Deutsch, Geographie und Geschichte, Einleitung in das Alte und Neue Testament, Exegese, Kirchengeschichte, Dogmatik, Erziehungslehre. Die Fächer im kleinen Kurs beschränkten sich auf das „Elementarische und das nötige Verständnis über die heilige Schrift und spezielle Anleitung für den seelsorgerischen Umgang mit Kindern und Gefangenen (SW 4/I S. 214).“
Allergrößten Wert legte Wichern auf die Praxis. Parallel zum Unterricht arbeiteten die Gehilfen als Erzieher und erprobten sich in der Seelsorge, in handwerklichen Tätigkeiten, in der Arbeitsanleitung, in der Krankenpflege, auch in der Aufsicht über die ökonomischen Zweige des Rauhen Hauses sowie in Besorgungen und Besprechungen im Dienste der Anstalt.
Voraussetzung für Mitarbeit und Ausbildung im Rauhen Haus waren u.a. (SW 4/I S. 220)
- eine wahrhaft christliche Gesinnung,
- der Besitz einiger Schulkenntnisse oder doch die Fähigkeit, dieselben leicht nachzuholen,
- die Fertigkeit in irgend einem Handwerk oder im Landbau oder doch die Bereitwilligkeit, solche Fertigkeiten sich hier anzueignen,
- eine kräftige Gesundheit.
Die Ausbildung wurde aus Spenden oder aus Pensionen finanziert, die verschiedene Vereine oder Institutionen für einzelne Gehilfen bezahlten.
Eine Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft
Kinderanstalt und Gehilfen-Institut sah Wichern als eine Einheit an. Das Rauhe Haus war keine diakonische Institution mit angeschlossener Ausbildungsstätte, sondern eine Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft. Nicht nur die Kinder zählte Wichern zur Hausgemeinde des Rauhen Hauses sondern auch die Gehilfen samt denen, die nach ihrer Ausbildung außerhalb des Rauhen Hauses tätig waren.
Alle im Rauhen Haus Tätigen und hier Ausgebildeten verstand Wichern als eine Genossenschaft – als eine „Verbrüderung gläubiger Männer zu einem gemeinsamen Wirken für das Reich Gottes unter Kindern oder Erwachsenen, unter Armen, Elenden, Verlassenen, Verirrten oder Verlorenen. Er nannte sie eine Familie, die aus dem Geiste der evangelischen Kirche geboren, in ihr und in ihrem Geiste und für sie in Werken der Barmherzigkeit ihren Beruf und ihre Arbeit in Gottes Namen zu erfüllen trachtet ("Die Brüder des Rauhen Hauses" (1856); SW 4/II S. 200).“
Die Brüder des Rauhen Hauses waren die erste, aber nicht die einzige Diakonengemeinschaft des frühen 19.Jahrhunderts. Brüderhäuser gab es u. a. in Beugen (Baden), Lichtenstern (Württemberg), Duisburg, Düsselthal, Neinstedt (Sachsen-Anhalt) und Zülchow bei Stettin. Einige nannten sich "Diakonenanstalten" - wie z. B. Düsselthal. Wichern lehnte diese wie auch die Bezeichnung "Diakonissenanstalt" für die sich damals parallel bildenden Schwesterngemeinschaften ab. Er sprach lieber von Brüder- und Schwesternhäusern. Denn die Gemeinschaften sind nicht, wie vielfach angenommen wird, auf die schon der apostolischen Kirche angehörige Institution der Diakonen und Diakonissen zurück zu führen. „Vielmehr hat in ihnen die evangelische Kirche in ganz neuer, rein evangelischer Art den zur Zeit der Reformation abgerissenen Faden der kirchlichen Korporationen, Orden und Stifte für praktische Liebeszwecke zum Besten von Kinder, Armen, Kranken, Verlassenen, Gefangenen usw. wieder aufgenommen ("Diakonen- und Diakonissenhäuser" (1855) SW 3/I S. 76).“
Diakonie: Freiwilliger Liebesdienst
Wichern sprach damit einen aus der Sicht eines erwecklichen Theologen wunden Punkt der Reformation an. Sie hat Orden und Klöster aufgelöst, aber den freiwillig ausgeübten Liebesdienst der Mönche und Nonnen nicht fortgesetzt. An die Stelle frommer Stifte und Einrichtungen traten städtische, weithin bürgerliche Kollegien. Die meisten im Zuge der Reformation entstandenen Kirchenordnungen machten das Armenwesen zu einer öffentlichen Aufgabe. Wichern nennt das einen geschichtlichen Zufall und kritisiert: „Die bloß bürgerliche Berufung und bloß bürgerlich festgestellte Befähigung aber zu Diensten, die wesentlich der freiwilligen Aufopferung angehören, enthält keine Garantie für die Geltendmachung oder Wahrheit der religiösen Gesinnung ("Diakonen- und Diakonissenhäuser"; SW 3/I S. 77).“
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