Der Traum in der Nacht von Freitag 19. auf Samstag 20. August 2011
Winter, der Boden festgefroren, in der Nacht hatte es geschneit. Eine erste, dünne Schneedecke lag über dem Feld zum Waldrand hoch. Die Ackerfurchen waren teilweise deutlich, wie mit dem Lineal gezogen, als dunkle Linien erkennbar, nicht genug Schnee, um über alle Unebenheiten, das glatte weiße Laken winterlicher Pracht zu spannen, das in der Sonne glitzert, die Augen blendet. Der Himmel war grau und diesig, Schneeluft, eiskalte Windböen, ein unwirtlicher, verloren scheinender Ort im Irgendwo. Von den Grashalmen an der Böschung neben dem Fahrweg hatte der Wind den Schnee weggepustet, sie schimmerten, als hätte der Frost sie mit einer feinen, dünnen Glasschicht überzogen.
Das weiße Haus stand unter dem Waldrand einsam auf freier Fläche. Die Fenster, über zwei Stockwerke verteilt, im immer gleichen Abstand zu-, übereinander und zu den Hausecken hin, nur einmal unterbrochen, an einer Stelle verlängerte sich das mittlere Fenster nach unten zu einer Haustür, von der eine steinerne Treppe hinunter auf den Fahrweg führte. Ein sauberes zweckmäßiges Rechteck, ohne jede Schnörkelei mit einem dunklen flachen Giebeldach. Schwarze Fensterlöcher in denen kein Licht schimmerte, kein Leben zu erkennen war. Der Himmel, die Landschaft, nichts spiegelte sich im Fensterglas, als gäbe es gar keines, als zöge der kalte Wind geradewegs durch die leeren Fensterhöhlen ins Haus. Die Haustür öffnete sich, sein Vater stand dort auf der Treppe, winkte ihn mit der Hand zu sich heran, in dieser ihm so vertrauten, unnachahmlichen Art, die keinen Widerspruch duldete. Er lief zu ihm, als er vor ihm stand, sah er diese Wespe, die sich gerade auf seinem Hals abgesetzt hatte. Der Hinterleib des Insektes hob und senkte sich pulsierend, kurz davor zu zustechen. Er hörte seine Stimme, ruhig und gefasst: „Du hast eine Wespe am Hals sitzen. Bleib ruhig stehen, ich scheuch sie weg!“ Sein Vater kam ihm zuvor, sprang zurück, als habe ihn eine Tarantel gestochen, wedelte mit den Armen, schlenkerte mit den Beinen wie eine Marionette, an deren Fäden ruckartig gezogen wurde, eher zufällig schlug er sich das Tier mit dem Handrücken vom Hals und verschwand ruckartig wieder im Haus als rissen ihn unsichtbare Schnüre zurück.
Er legte sich platt auf den Boden, spürte die hart gefrorene Erde, die kalten Kieselsteine und schüttete Körnerfutter in den Hühnerstall, der nur aus einem großen Stück Wellblech bestand, das hinten in der Erde verschwand und vorne kniehoch aus dem Boden ragte, gehalten von in die Erde gerammten Holzpfosten. Er warf Stroh hinein, streute Futter unter das Dach aus. Auf dem Wellblech über ihm hockten dicht an dicht Dohlen, Krähenvögel. In sicherer Entfernung auf dem Weg spazierten Tauben auf und ab. Alles wartete nur darauf, dass er endlich verschwand, sie ihren Teil vom Futter abbekamen. Er schob das Stroh ganz nach hinten, in den schmalen Winkel, da wo das Wellblech im Boden verschwand. Dort fand er ein totes Huhn, um an den Kadaver heran zu kommen, musste er etwas vorrobben, kam fast mit dem Oberkörper in den Hühnerdung, roch die Tiere, die, dicht an dicht, in der anderen Ecke, auf Abstand zu dem toten Körper, standen. Er spürte ihre Wärme, kam nur mit Mühe, mit spitzen Fingern an den Kadaver, angelte ihn zu sich heran, bis er ihn endlich packen, mit Schwung hinter sich ins Freie werfen konnte. Erst dachte er seine überraschende Bewegung hätte die Krähenvögel aufgeschreckt, dann sah er diesen Schatten, den Plastikkanister aus dem eilig, mit hektischen Hin- und Herbewegungen etwas über den Strohballen ausgegossen wurde. Benzin! Hoch schossen die Flammen, im nu brannte es lichterloh, eine Feuerwand rund um das ganze Haus: Feuer! Feuer! Er wachte auf, hinter den Fenstern dämmerte der Morgen.
Samstag 20.08.2011 bis Donnerstag 25.08.2011
Er kam zu Kräften. Schritt für Schritt wurde er entkabelt. Es floss kein Blut mehr, die Drainage wurde entfernt. Er brauchte keine Infusionslösungen mehr, konnte sich bewegen. Er begann mit seinen Wanderungen über die Flure hinweg, mit dem Henkelmann, seinem Urinbeutel an der Seite, den er diskret unter dem Bademantel verschwinden ließ. Europas Finanz- und Schuldenkrise kehrte in seinen Kopf zurück, er nahm wieder teil am Tagesgeschehen. In der Tageszeitung der Privatpatienten war großformatig das Bild der Yacht eines russischen Gangsters abgebildet, mit der wichtigen Nachricht, sie, die Yacht, sei zu groß für den Hafen der Reichen und Schönen in Cannes, hätte aber einen bordeigenen Hubschrauber und sogar Miniuboote um unentdeckt an Land gehen zu können.
Rein äußerlich begann er wieder zur alten Form zurück zu finden, wie ein Zug, der vom Abstellgleis wieder hinaus auf seine gewohnte Bahn geschoben wird. Friedrich Schillers Wallenstein: Es ist der Geist der den Körper schafft! Sein Geist übernahm wieder das Regiment, als könne er mal eben bruchlos an der Stelle anknüpfen, an der er am 19. abgeschaltet worden war. Er spürte diesen Zwiespalt, dieses sich Aufrichten, Haltung annehmen, aus dem Bett raus, in gewohnter Haltung: Nichts ist passiert! und tief in ihm diese Schwärze, diesen Raum, der ihm Angst machte, in dem immer noch das blanke Chaos, Entsetzen herrschte, als sei plötzlich das Licht ausgefallen, als tappe alles kreuz und quer durch die Finsternis, verzweifelt auf der Suche nach sich.
Seine Frau kam täglich, ihr gegenüber tat es ihm gut, diese Schwärze, die ihn ängstigte in seinen Augen aufscheinen zu lassen: Ich habe panische Angst! Sie antwortetet mit Zuwendung, Aufmerksamkeit, Wärme, ja doch: Liebe, die er so nötig brauchte, wie die Wüste das Wasser. Liebe, die von ihm nicht eingefordert wurde, ganz uneigennützig aus tiefstem Herzen kam, ihm einfach entgegen schlug und zu Tränen rührte. Bloß keine Pflichtbesuche, Keine abgespulten Beileidsbekundungen, keine Genesungswünsche, die aufgesetzt daher kamen. Dafür hatte er ein feines Gespür!
Der Mann ohne Eigenschaften
Er begann wieder zu lesen, Robert Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“. Jahrzehntelang hatte der Wälzer im Regal gestanden. Gehörte zur Allgemeinbildung! Er hat immer gelogen, ihn nie gelesen, immer nach wenigen Seiten zugeklappt und wieder weggestellt. Jetzt las er ihn mit wachsender Spannung, als sei er jetzt endlich alt genug für dieses Buch, ihm gewachsen. Er vertiefte sich in die darin beschriebene Parallelaktion, die sich mühte außerhalb der staatlichen Institutionen im Vielvölkerstaat Österreich – Ungarn, in Musils Kakanien, die eine große, alle Völker verbindende, ergreifende, miteinander versöhnende Idee zu finden, mit der 1917 das 70jährige Thronjubiläum des alten Friedenskaisers Franz Joseph begangen und seinen Glanz in die ganze Welt ausbreiten sollte. Der Roman spielte zur Jahreswende ins Frühjahr 1914 hinein. Europa 2011 kam ihm wie dieses Kakanien vor. Auch jetzt war wieder diese alle erfassende Unruhe zu spüren, als sei etwas im Entstehen, als erfordere die Zeit eine Umwälzung von der noch keiner wusste, wie sie aussehen sollte. In Kakanien, unter den Teilnehmern an der Planung dieser epochalen Parallelaktion, breitete sich damals wachsend eine unstillbare Sehnsucht nach der einen Tat aus, der einen Tat, die alles andere in den Schatten stellt, sie alle aus dieser Erstarrung, aus diesem nutzlosen um sich selbst herum drehen endlich erlösen würde: „Es ist so einfach Tatkraft zu haben und so schwierig einen Tatsinn zu suchen.“ Wie wahr, wie wahr, jubelte es in seinem Kopf. Er würde weiter suchen, sobald er hier nur wieder raus ist.
Es beglückte ihn, dass diese, von soweit her, über die Zeit hinweg, zu ihm kommenden Gedanken ihn beflügelten, er für einige Zeit vergaß, dass er der Mann ohne Unterleib war. Alles abwärts seiner Hüften war ihm fremd, gehörte nicht zu ihm. Er hatte keine Beziehung zu diesem verschrumpelten Etwas, das wie ein fetter Engerling an ihm dran hing, in dem ein Schlauch steckte. Das Dings da war ihm nur lästig, störte ihn.
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