Diese Andacht war es aber auch nicht alleine, fesselte ihn die musikalische Darbietung war der Schreizwang verschwunden. Er tauchte nur auf, wenn seine Konzentration nachließ, sich die Ohren von der Bühne ermattet, gelangweilt, uninspiriert abwendeten, die Augen gleichzeitig über die Reihen hinweg gingen. Hinterköpfe, dicht an dicht, wie aufgeschnürt, graue, weiße Haare, im Wechsel mit frisch gefärbten, frisierten, ondulierten Damenköpfen, deren Alter verrieten, die leicht nach vorn gesunkenen Schultern und Frisuren, die übergangslos von den 70er Jahren hierher gekommen waren. Abonnenten, die heute hier waren, weil der Konzerttag auf dem Monatskalender in der Küche, im Flur schon lange angekreuzt war. Er dachte an den Orchesterintendanten, der ihm ganz im Vertrauen verriet: Der größte Teil der deutschen Symphonieorchester wird sein Publikum in den nächsten zwanzig Jahren auf natürlichem Wege, per Exitus, verlieren wird.
Er könnte aufstehen laut: Freiheit! Freiheit! Rufen. Das ist kein Schimpfwort, da fühlt sich keiner angesprochen, denkt höchstens an eine politische Demonstration. Er wusste auch nicht, ob es mit einmal Rufen getan sei, ob sich dieser unwiderstehliche Drang dann erschöpft hat. Der Dirigent würde abschlagen, das Orchester hört auf zu spielen. Der Dirigent würde sich dem Zuschauerraum zuwenden, im Halbdunkel nach dem Krawallmacher suchen. Wahrscheinlich würden in seiner Höhe die Saaltüren aufgehen die Türöffner stecken irritiert die Köpfe herein. Möglicherweise ginge sogar das Saallicht an und er stünde erbarmungslos im Licht. Würde ihn dieser Eklat ermuntern weiter: Freiheit! Freiheit! Freiheit! oder neutral: Ahhh! Ahhhhh! Ahhhhh! zu schreien? Ein neutraler Schrei wäre nicht politisch interpretierbar, würde die allgemeine Ratlosigkeit noch steigern, was ist mit ihm? Ein Irrer, ein Mordanschlag? Würde er plötzlich knallrot vor Scham in sich, in den weichen Sitz zurück fallen, alles darum geben ein kleines Mäuslein zu sein? Fragen über Fragen, Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, bei einem rein technisch, körperlich so einfachem Vorgang. Das war genau der Moment, in dem er sich als einen kleinen grauen Punkt in der Masse sah und sich erleichtert zurücklehnte. Der Anfall war vorüber! Er hatte seine Frau neben ihm nicht bis die Knochen blamiert!
Er dachte oft über diese Anfälle nach. Es lag sicher an ihm, er war unaufmerksam, ungerecht, dabei wurde etwas für seine musikalische Bildung getan, das ist doch was! Wer möchte schon als ungebildet gelten. Lag es an denen da oben, dass bei ihm so wenig ankam, oder lag es an seinen Nerven, die dieser gespielten Anspannung überdrüssig waren, ihm die Wahl ließen herzhaft zu gähnen, oder los zu brüllen. Sich aus der Masse erheben, als einzelner alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, einen Eklat produzieren, wofür, wogegen egal, nur spüren, dass er da ist, sich noch nicht aufgelöst hatte. Vor dem 19. August war leider kein Konzert, keine Gelegenheit mehr, der Eklat fiel aus! Sommerpause! Die nächsten Konzerte sind erst wieder im Herbst. Glück gehabt! Wer auch immer!
Donnerstag, 18. August.2011
Klinik, mit Sack und Pack angerückt. Er kannte bereits alle Wege, bekam sein Bett zugewiesen, Mittellage, der Fensterplatz war leider belegt. Alles wiederholte sich Begrüßung der Mitgefangenen, das obligatorische Abführmittel, nichts mehr essen. Er bekam einen Ablaufplan, der ihn durch das ganze Labyrinth des Hauses führte. EKG, Röntgenbild Thorax, Gespräch mit dem Anästhesisten. In den Wartezeiten auf den Fluren genug Muße auf der Rückseite seiner Krankenakte verschiedene Fragebögen auszufüllen: Raucher? Nichtraucher? Alkohol-, Tablettenkonsum? Allergien? Mit seiner Unterschrift bestätigte er, dass ihm alle Risiken bekannt, vertraut sind, er sich gerne auf sie einlässt, von ganzen Herzen einverstanden, dass es allein seine Sache ist, wenn irgend etwas von dem, was so gut wie nie eintrifft, ihn erwischt, er dann auf keinen Fall Ansprüche gegen irgendwas, -wen, irgendwann und überhaupt stellen wird. Er war rundum beschäftigt.
Etwas fiel an diesem Tag aus dem Rahmen, seine erste Intimrasur, davon später. Es ist Gelegenheit hier zwei sich täglich wiederholende Gegebenheiten anzusprechen, die ihm nicht gleich am ersten Tag ins Auge fielen, aber nach und nach bleibenden Endruck hinterließen.
Die Krankenschwestern! Es gab, grob unterteilt drei Spezies, die jungen, hübschen, attraktiven, Vorabendprogrammklinikserientauglich, bei einer von diesen brauchte er fast den gesamten Aufenthalt um heraus zu finden, dass gerade sie für ein so durchdringendes Gelächter verantwortlich war, das man gemeinhin als: schmutzige Lache bezeichnet. Die zweite Gruppe war die mütterlich fürsorgliche, nein fürsorglich waren sie alle, aber hier in dieser besonderen Art gestandener Frauen, denen nichts mehr fremd, die aber ihr Einfühlungsvermögen noch nicht verloren hatten. Der dritten, zahlenmäßig kleinsten Gruppe, war auch nichts mehr fremd, aber sie hatten das Einfühlungsvermögen eingespart: Mannsbilder, die verstehen nur Klartext. Sie gingen davon aus, dass alle Männer erstmal kleine und große Ferkel sind, denen man am Besten alles immer etwas lauter als nötig sagt, klare Ansage, ihnen unmissverständlich zeigt, wo es lang geht, ohne großes Federlesen, ohne sich groß mit lästigen Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten. Hart aber herzlich, sie meinten es nicht wirklich böse, für sie waren alle Männer Fernfahrer, oder große Kinder, die im Matsch spielen, sauber gemacht und dringend erzogen werden müssen. Extrawünsche: Hääh!? Er entwickelte ganz schnell seine eigene Taktik diesen Schwesterntyp, der von seinen Mithäftlingen Schwester Rabiata genannt wurde, durch ungewohnte formvollendete Höflichkeit, geradezu von oben herab, locker und leicht auflaufen zu lassen, damit kamen sie nicht zurecht, erstarrten regelrecht, schwiegen tatsächlich, sperrten Mund und Nase auf, weil alle Chips durcheinander geraten waren und neu sortiert werden mussten. Der mütterliche Typ tat ihm gut, bei ihnen fühlte er sich geborgen, ließ sich förmlich in ihre Hände fallen.
Bei den Jungen, hübschen, die immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hatten, spürte er deutlich, dass diese Sprüche, deswegen so locker, rüber kamen, weil die drei Männer in diesem Zimmer für sie weder eine Gefahr, noch ein in irgend einer Art und Weise interessantes, anregendes, gar erregendes, erotisches Angebot darstellten. Er war gekränkt, nicht weil er die Absicht gehabt hätte, ihnen Avancen zu machen, aber so eindeutig zu spüren, dass er als Mann nicht mehr existierte, war eine Beleidigung. Die Männer neben ihm befanden sich in einer hilflosen Lage, inkontinent, Urin und Blutbeutel durch die Gegend schleppend. In ihren Bademänteln, Trainingsanzügen, ausgeleierten Jogginghosen waren sie wirklich keine Hingucker. Es reizte ihn nun erst recht, aus Trotz, schnell noch eines dieser jungen Dinger flach zu legen!
Auf den Jahrmärkten der Jahrhundertwende, zur Kaiserzeit von Wilhelm zwo, waren in den Zelten mit den Abnormitäten, Damen ohne Unterleib eine der Sensationen. Die Besucher schauten durch ein Guckfenster in eines der Kabinette und bekamen, mit Hilfe einer ausgeklügelten Spiegeltechnik, täuschend wirklich, das Bild einer Frau ohne Unterleib gezeigt, die man auf einem Tisch abgestellt hatte, zwischen dessen Beinen man hindurch schauen konnte. Selbstredend waren es junge, bildschöne Frauen, mit großzügigem Dekollete, oder mit einem Schleier, der gerade noch die Zensur passiert hatte, mehr ausgezogen als verhüllt, Appetit machte, heißes Begehren weckte, auf dieses Dreieck darunter, dass bei diesem armen Geschöpf leider nicht vorhanden war. Als „Mann ohne Unterleib“ ist er bald auch so eine Attraktion, nur Begierde würde er keine wecken Schöne Aussichten!
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