Die nachgebende Seite war danach dann doch, wie zu erwarten, Brigitte. Dominik blieb stur wie ein Panzer, wenn es um solche Dinge ging. Er stellte selten besondere Ansprüche, die ihm Brigitte erfüllen sollte, aber wenn er einen bestimmten Wunsch äußerte, führte kein Weg daran vorbei. Um wieder Frieden im Hause zu haben, und weil der Cognac den Streit nicht wert war, kaufte Brigitte eine Flasche des gewünschten Getränks und überreichte sie ihm mit einem versöhnenden Kuss. Den ´falschen´ Cognac rührte Dominik nie an. Nach dem ersten Gläschen seiner Marke war dann schließlich auch von Dominik her alles in Ordnung und der Hausfrieden wieder hergestellt.
Wegen solchen unbedeutenden Kleinigkeiten stritten sie mit zunehmendem Alter immer weniger. Sie wurden beide ruhiger und reifer, also erfahrener und erkannten, dass Streiten keine Lösung war. Jeder Tag im Streit blieb ein verlorener Tag, den man nicht mehr aufholen konnte. Die letzten Jahre ihrer Ehe gab es nicht einen einzigen Disput mehr.
Aus dem Schlückchen, das Dominik an jenem Abend noch trinken wollte, wurden letztlich vier Gläser. Während dieser Zeit fand Brigitte ein paar passende Teile in ihrem Puzzlespiel, bei dem Dominik stumm, seinen Schlaftrunk genießend zusah. Ab und zu schüttelte er als einzigen Kommentar dazu den Kopf. Er hätte nie die Geduld zu einem solch langwierigen und ermüdenden Projekt aufgebracht.
Bei ihrem aller ersten Bild wollte Brigittes bessere Hälfte ihr gerne behilflich sein. Aber nachdem er einige Teile in die Hand nahm und sie einfügen wollte und keines davon in die von ihm vorgesehene Lücke passte, stand Dominik seinerzeit, „so ein Quatsch“ murmelnd auf und trank einen Cognac.
„Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns schlafen legen“, brach Dominik das Schweigen, als er den Rest des vierten Glases ausgetrunken hatte. Obwohl Brigitte eigentlich noch nicht so richtig müde war, nickte sie zustimmend. Das Teil, das sie gerade versuchte einzupassen, legte sie zur Seite, um dann Dominik ins Bett zu folgen.
Der Rest des Tages lief also genau so unbefriedigend ab, wie fast jeder andere zuvor auch. Im Schlafzimmer angekommen, begab sich jeder auf seine Seite des Bettes. Sie gaben sich gegenseitig den üblichen, lieben und zärtlichen Gute-Nacht-Kuss, nach welchem sich Dominik auf die Seite rollte, um wenig später einzuschlafen.
Dann lag Brigitte da! Der Kuss und Dominiks Empfindungen beruhten zwar auf echter Liebe, aber Brigittes Körper verlangte oft mehr. In solchen traurigen Stunden spürte sie deutlicher als sonst den Altersunterschied zwischen sich und ihrem Mann. Denn in den Momenten zeigte er sich in größtem Ausmaß. Dominik liebte sie mit jeder Faser seines Körpers. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Er verehrte Brigitte, war zu jeder Zeit herzlich zu ihr und wollte nur das Beste für sie. Er gab Brigitte was er konnte. Die körperliche Liebe jedoch, war er inzwischen unfähig ihr so oft zu geben, wie Brigitte das gerne gehabt hätte. All sein Geld konnte ihr nicht ersetzen, was ihr fehlte.
„Hallo Tante, schläfst du?“ spricht Brigitte plötzlich eine sehr junge Stimme neben sich an. Aus ihrem Traum gerissen, den Kopf zur Seite drehend, sieht sie nun das kleine Kind, schätzungsweise vier oder fünf Jahre alt, das Brigitte aus weiten, braunen Augen anstarrt. Der Knirps, allem Anschein nach ein Mädchen, hält vor dem Bauch die Ärmchen über einem großen, bunten Wasserball geschlossen und mustert Brigitte aufmerksam.
Die Kleine beobachtete Brigitte wahrscheinlich schon eine geraume Weile, wie sie so ganz still, ohne sich auch nur einmal zu bewegen in die Ferne starrte und dabei ihren Gedanken und Erinnerungen nachhing. In ihrer kindlichen Unwissenheit kam sie dann wohl zu dem Schluss, dass Brigitte mit offenen Augen schlafen würde.
„Nein“, antwortet Brigitte mit einem gekünstelten Lächeln, das aber misslang, „ich bin hellwach“. Mit einer leiseren Stimme fügt sie mehr zu sich als zu dem Mädchen hinzu: „Ich wollte, es wäre alles nur ein Traum gewesen. Ich würde heute alles anders machen!“
Das junge Fräulein, deren Neugierde jetzt vermutlich befriedigt war, zeigt ihrerseits ein breites Grinsen, bei dem sie jene Zahnlücke freigibt, die jedem Kind in diesem Alter zu Eigen sind. Ohne Übergang kneift sie aber auf einmal die Augen zusammen und streckt Brigitte frech ihre kleine, rote Zunge heraus. Das Kind dreht sich um, ohne noch irgendetwas zu sagen oder zu tun und rennt davon.
Ja, weglaufen, einfach abhauen und alles hinter sich lassen, das würde Brigitte am liebsten auch tun. Ihr ist dagegen aber klar, dass fliehen im Endeffekt doch nicht die Lösung ihrer Probleme ist. Brigitte muss durch diese endlos scheinende Wüste der Qualen hindurch. Sie kann nicht einfach Reißaus vor ihrer Vergangenheit, der Gegenwart, der damit verbundenen Schwierigkeiten, der Welt und sich selbst nehmen. Egal, wohin sie rennen würde, Brigittes Probleme wären bereits dort und würden auf sie warten. Ihre Nöte lauern auf sie, liegen immer im Hinterhalt, egal wo sie ist.
´Die Sonne steht schon wieder ziemlich tief am Horizont`, denkt Brigitte für sich. Es verging offenbar eine Menge Zeit während ihrer Tagträume, in denen sie über ihre Vergangenheit mit Dominik nachdachte. Brigitte macht sich auf den Weg zu ihrem geparkten Auto, um nach Hause zu fahren und sich ins Bett zu legen. Mehr hat sie von diesem Tag nicht zu erwarten. Schlafen ist so gesehen auch eine Art Flucht vor der Wirklichkeit.
Insgeheim hofft Brigitte nur, dass sie jetzt, nachdem sie etwas aus dem Haus an der frischen Luft des Sommers war, mit Ruhe und in Frieden einschlafen kann.
Am folgenden, heutigen Morgen, als Brigitte die Augen aufschlägt, durch die hellen, freundlichen Strahlen der Sonne geweckt, fällt ihr erster Blick auf die Uhr. Die digitale Anzeige des Weckers zeigt bereits 11:43Uhr. Sie hat ziemlich lange geschlafen. Normalerweise liegt die Zeit, in der Brigitte erwacht zwischen 8.00 und 9.00 Uhr.
Mit dem zweiten Blick entdeckt Brigitte wie ihr Bett zugerichtet ist. Das Laken bedeckt kaum noch die Matratze und ist total zerwühlt. Die Steppdecke liegt quer, statt der Länge nach im Bett und das gesamte Bettzeug ist total durchgeschwitzt und feucht. In der vergangenen Nacht schlief sie ganz offensichtlich besonders unruhig und quälte sich augenscheinlich im Schlaf. So nach und nach kommen die Erinnerungen zurück und die letzten Minuten des vorherigen Tages laufen in ihrem Geiste ab.
Die Dämmerung setzte ein, als Brigitte von ihrem ungewollten Ausflug nach Nizza zurückkehrte. Das Haus lag still und dunkel in der anbrechenden Nacht und wirkte friedlich. Doch schon als Brigitte auf die Eingangstür zuging, befiel sie ein Gefühl des Unbehagens. Die Angst, die sie Stunden zuvor aus dem Haus verjagte, glomm erneut in ihr auf. Am liebsten wäre sie in diesem Moment sofort umgekehrt, um sich in der Ortschaft ein Zimmer zur Übernachtung zu mieten. Doch ihre verheerende finanzielle Lage schloss diese Alternative vollkommen aus.
Im nächsten Augenblick sagte sich Brigitte, um sich selbst zu beruhigen und um Mut zu schöpfen, dass diese Empfindungen und die gespenstigen Erlebnisse doch alles nur Hirngespinste und Einbildung seien. Brigitte schloss die Tür auf, ging mit sicherem Schritt in die Einganghalle und knipste das Licht an. Die Helligkeit der Lampen tat ihr gut und beendete die unbehaglichen Sinnesempfindungen von Brigitte. Sie fühlte sich sogleich irgendwie wohler und geborgener. Brigitte duschte gleich anschließend Melodien summend, ohne einen weiteren Gedanken an die verrückten Dinge zu verschwenden, die vorgefallen waren und sich noch ereignen könnten. Diese Halluzinationen, die ihr ihre Phantasie vortäuschten und ihr das Leben noch zusätzlich zu den anderen Problemen so schwer machten, versuchte sie zu verdrängen. Die Geschehnisse, die Brigittes Gewissen anscheinend erzeugten, nagten allmählich an der Substanz ihres Verstandes.
Читать дальше