Bei dieser Expedition fand ich einen Elektrodraht, meist im Gestrüpp eingewachsen oder auf dem Boden, weil das Wachsen der Bäume den Befestigungsdraht der Isolatoren gesprengt hatte. Es muss also noch jemand anderes unser Land benutzt haben! Jean-Paul wusste wer. Es war jemand aus dem Dorf, der als Fernfahrer unterwegs war und hier, da er selber wenig Land hatte, seine Kühe hingetrieben hatte, weil der Eigentümer, der auf die Rente zuging, selten mehr hierherkam. Diesem also hatten wir mit unserem Kauf ‚sein‘ Land ‚gestohlen‘! Das hatte ihm, wie er mich merken ließ, als ich ihn mal ansprach, nicht gerade gefallen! Den Zaun bräuchte er noch, da dürfe ich nicht dran. Oder doch, wenn ich ihn ihm abkaufen würde! Er nannte eine astronomische Summe. Ich dachte anfangs, er rede in alten Francs, wie das so üblich war. „Der spinnt wohl!“, sagte ich mir, „vielleicht will er auch von unseren Deutschen Mark profitieren!“ Da soll er ihn sich lieber abbauen! Ich zäunte nun mit neuem Draht unsere Wiesen ein, in dem Maß, wie wir sie für die Kühe brauchten.
Denn inzwischen hatten wir eine weitere Kuh und ein zweites Kälbchen erworben. Oma hatte etwas Geld geschickt und eine ‚Patenschaft‘ übernommen. Zweimal täglich molken Doris und ich diese. Meist waren die Kinder dabei und freuten sich, wenn sie Kälbchen spielen durften und wir ihnen ein paar Strahlen in den Mund molken. Einen Teil der Milch nahmen wir für uns, machten Quark, rührten unsere Müeslis damit an. Den Rest bekamen die Kälber. Die Milch der Ziegen wurde von deren Jungen gesaugt. Irgendwann im Sommer tauchte jemand aus dem Nachbardorf auf und wollte sie uns abkaufen. Er hatte selber auch Ziegen und verkaufte die Zicklein geschlachtet an Städter, die eine Zweitwohnung im Dorf hatten. Er selber hatte nicht genügend Tiere. Sein Preis war korrekt und deshalb überließen wir ihm die Männchen. Die weiblichen Tiere behielten wir, um die Herde aufzustocken.
Eines Morgens fand ich Federn von unseren Perlhühnern hinterm Haus. Kamen unsere Hühner regelmäßig in den Stall zum Legen und zum Übernachten, so hatten die Perlhühner die dumme Angewohnheit angenommen, unter freiem Himmel zu übernachten. Wie ich später an ihren Nestern sah, im Schlehdorngestrüpp oberhalb unseres Hauses. Das hatte der Fuchs ausgenutzt. Unterhalb von uns, auf halbem Weg zum Dorf, hatte ein Toulouser eine kleine Ferienhütte am Bach. Er war Jäger und Angler und handelte auch mit Gewehren. Als er vom Missgeschick unserer Perlhühner hörte, bot er mir als Lösung ein doppelläufiges Jagdgewehr an und verschiedene Patronen. Schrot für den Fuchs, große Kugeln für die Wildschweine. Doch zuerst musste ein freies Schussfeld geschaffen werden! Mit Hackmesser und Motorsäge ging ich dem Dickicht zu Leibe. Mit wenig Erfolg, denn ich kam nicht nahe genug an die Stämmchen des Gestrüpps heran und hatte bald überall Dornen in der Haut. Als ich diese rauziehen wollte, brachen deren Spitzen ab. Ich versuchte, diese mit der Nadel heraus zu pulen. Manche saßen so tief, dass sie erst nach Wochen rausgeeitert warten. Ich musste anders vorgehen! Seit kurzem wurden ‚Motorsensen‘ oder ‚Freischneider‘ auf dem Viehmarkt von den Händlern angeboten. Ich hatte so ein Ding mal bei der Arbeit gesehen und war überzeugt, dass es das ideale Gerät für unseren Hof wäre. Ich wählte ein Gerät, das auch zur Motorsäge umgebaut werden konnte. Als Messer unten dran wählte ich eine dreieckige Klinge hauptsächlich für die Brombeeren, und ein Kreissägeblatt, mit dem ich die Schwarzdorne problemlos in Bodenhöhe absägen konnte. Langsam schrumpfte das Dickicht unter dem Singen der Säge zusammen und ich fand sogar die Nester der verspeisten Perlhühner! Die Stämmchen warf ich mit der Mistgabel, um nicht noch mehr Dornen abzubekommen, auf einen immer grösser werdenden Haufen. Da das Zeug nicht brennen wollte, ließen wir alles erst mal trocknen und verschoben das Anzünden auf Johanni. Es tauchten sogar zwei überlebende Perlhühner wieder auf. Hatten diese inzwischen gelernt, auf Ästen zu übernachten? Es waren also nur die brütenden verschleppt worden! Mir gelang es mehrmals, sie nachts zu fangen und in den Hühnerstall zu sperren. Doch zogen sie das Schlafen unter freiem Himmel vor. Wie ich auch, wenn sich die Gelegenheit bot. Nichts Ergreifenderes, als nachts unter dem Glitzern der Unendlichkeit aufzuwachen!
Was wir außerdem dringend brauchten, war ein Hund! Als Wachhund fürs Haus, um uns rechtzeitig Jean-Paul zu melden, gegen den Fuchs, als Hütehund. Wenn ich manchmal einen Hund mit der Herde arbeiten sah, wurde ich richtig neidisch! Bisweilen kam der Vater oder die Mutter Jean-Pauls zu uns hoch. Irgendwie war immer einer aus dem Clan in der Gegend. Natürlich hatten sie manchmal Tiere in der Nähe. Mir kam es vor, als dienten diese nur als Alibi. Wir waren der wahre Grund ihres Hierseins! Sie saßen irgendwo und beobachteten uns, manchmal mit dem Fernglas. Oft waren es ihre Hunde, die ihren Beobachtungsort verrieten, weil sie umherliefen. In mehreren Episoden erzählten die Eltern uns Jean-Pauls Leben. Er sei nicht richtig im Kopf. Man hatte ihn früh von den Eltern weggenommen und bei einer Tante untergebracht. Er war nie zur Schule gegangen und hatte mehrere Jahre in einer psychiatrischen Anstalt verbracht. Sie hatten erreicht, dass er für unmündig erklärt wurde und deshalb eine Rente bekam. „Wenn wir mal nicht mehr sind, braucht er nicht mehr zu arbeiten…“ Er durfte keinen Alkohol trinken, weil er Medikamente nahm. Das erklärte auch, warum man ihn so wenig im Wirtshaus sah. Sicher hatte der Wirt dementsprechende Anweisungen! Bevor wir das alles erfahren hatten, war er uns gar nicht so sehr wie der ‚Dorfdepp‘ vorgekommen. Man sah ihm zwar irgendwie an, dass er nicht der Hellste war, doch was seine Tierkenntnisse anbetraf war er unschlagbar! Außerdem merkten wir bald, dass er eine Menge ‚Bauernschläue‘ besaß, eine gewisse Hinterlistigkeit, dass er seinen Ruf, der Dorftrottel zu sein, zu seinem Vorteil ausnutzte!
Jedenfalls war er es, der gehört hatte, dass in einem Tal in Richtung Spanien jemand einen jungen Hund zu vergeben hatte. Wollte er nur einen Ausflug machen? Denn er meinte, er hätte Zeit und würde mitfahren. Also fuhren wir zwei los. Zuerst über den Pass von Portet d’Aspet, dann, fast unten, bogen wir nach Süden ab und ein anderes Tal in Serpentinen hoch. Wir sahen, dass oberhalb eine Skistation im Bau war. ‚Le Mourtis‘ stand auf den Schildern. Kurz zuvor bogen wir in ein kleineres Tal ein, die Straße verwandelte sich in einen ausgewaschenen Kiesweg und führte durch einen hohen Buchenwald. An der einzigen breiteren Stelle standen ein paar Autos und Autowracks. „Da muss es sein, ich bin schon mal hier gewesen!“, meinte er, und wir stellten das Auto ab. Unterhalb eines Stahlseiles, das als Lastseilbahn diente, stiegen wir einen Zickzack-Pfad hinauf. Wo das Seil endete stand ein etwas hergerichtetes, altes Haus. Hier wohnten ein paar junge Leute. Sie hatten ein knappes Dutzend Schweizer Kühe und machten Käse. Sie hielten auch ein paar Schafe, aber keine Milchschafe, um das Land besser zu nutzen, wie sie sagten. Sie rauchten gerade einen Joint und boten ihn uns ab. Wir lehnten ab. Wir kamen auf die Hunde zu sprechen. Niedliche, tollpatschige Tiere, die uns schon zu Beginn begrüßt hatten und nun an unseren Schuhen knabberten. Wir schauten die Seilbahn an und erzählten von unserem System. Ich sah, dass hinterm Haus das Land flacher wurde. Ihr Hauptproblem war der Zugang zur Straße. Und, dass sie nicht an das Dorfwassernetz angeschlossen waren! Deshalb dürften sie auch offiziell keine Käse verkaufen. „Irgend so eine europäische Regelung, von den Großkonzernen durchgesetzt! Seit Menschengedenken haben Menschen an Quellen getrunken. Jetzt ist das plötzlich verboten! Wahrscheinlich, weil inzwischen anderswo alles so verschmutzt ist, dass man Wasser nicht mehr trinken kann! Das große Geschäft der Zukunft!“, erklärten sie. Doch niemand würde das je kontrollieren. Die Hunde waren uns auf unserer Hofbesichtigung gefolgt. „Such dir einen aus! Das macht schon mal einen weniger!“ Ich suchte ein Männchen aus, wenngleich Jean-Paul meinte, Hündinnen seien besser. Ich gab ihnen 50 Francs, obwohl sie eigentlich nichts haben wollten. Mit dem Hund auf dem Arm machten wir uns an den Abstieg.
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