Geringschätzig blickte der Ermittler auf den Geist herab. »Wie anbiedernd, das ist ja furchtbar. Stehen Sie schon endlich auf!« Er konnte es nicht ertragen, wenn Frauen — lebend oder tot — sich derart erniedrigten. »Ich höre mir Ihre Probleme ja schon an.«
Mit feuchten Augen erhob sich der Geist wieder. Trotz des hinderlichen Rockes gelang ihr das mühelos, denn Geister benötigten keine Muskeln und kannten keine Schwerkraft. »Danke, vielen Dank!« schluchzte sie.
»Jaja, setzen Sie sich wieder hin.« Horatio beugte sich in seinem Sessel nach vorne und zeigte drohend mit dem Zeigefinger auf sie. »Aber ich warne Sie! Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist mit mir nicht gut Kirschen essen!«
Der Geist schüttelte heftig den Kopf, ohne dass auch nur eine Blüte oder Feder an ihrem Hütchen verwehte oder zerzauste. »Nein, ist es nicht. Sie können sie sich ansehen. Sie liegt immer noch dort, wo ich sie gefunden habe... hoffe ich. Nur wollte mir bisher niemand dorthin folgen.«
Horatio zog beide Augenbrauen hoch. »Ach, tatsächlich?« Er wusste nicht so genau, was er von der ganzen Angelegenheit halten sollte. Wollte sie ihm eine Falle stellen? Oder war hier tatsächlich etwas Merkwürdiges im Gange? Er glaubte zwar nicht an eine solche unmögliche Märchengeschichte oder überhaupt an jeglichen abergläubischen, übersinnlichen Hokuspokus, doch seine Neugier meldete sich leise zu Wort. Zeit, die Aussage der Verblichenen genauer unter die Lupe zu nehmen und auf den Prüfstand zu stellen.
Entschlossen löschte er das Licht der Petroleumlampe, sodass nur noch das weiche Schimmern des Geistes das Zimmer erhellte. »Gehen wir!« Er nahm seinen Gehstock, setzte seinen Zylinder auf und verließ das Büro. Hinter ihm huschte der Geist durch die Wand neben der Tür und stieß dabei ein Bild vom Nagel, das einen Rahmen mit Geisterlicht -Lackierung besaß.
»Herrgottnocheins! Sie sollen endlich diese vermaledeite Tür benutzen!«, brüllte Horatio so laut, dass man es auch in den Nachbarbüros noch hören konnte.
»Meine Herren...« Der Große Vorsitzende klemmte sein Monokel umständlich vor sein Auge und zog eine hochmütige Miene. »Ich heiße sie herzlich willkommen zu unserem heutigen Logentreffen.«
Die Propeller des Luftschiffes dröhnten laut, und der Lärm drang durch ein offenes Fenster. Mit einem Wink bedeutete der Vorsitzende dem Stewart, das kleine Fensterchen zu schließen. Augenblicklich trat Stille ein und der Mann mit dem aristokratischen Gesichtsausdruck nickte zufrieden. Alle Augen der 20 versammelten Herren waren auf ihn gerichtet, als er eine kunstvoll verzierte Holzkugel griff und mit dem abgeflachten Boden fünfmal in einem bestimmten Rhythmus auf den Tisch klopfte — das Geheimzeichen der Loge, das jede Sitzung einleitete. Einige der Anwesenden rückten noch einmal ihre Schärpen zurecht, die über ihren vornehmen Fräcken lagen und die ihre unterschiedlichen Ränge aufzeigten. Gespannte Stille herrschte, als der Vorsitzende würdevoll die Hand zum Logengruß hob.
»Nun dann... die Zeugen mögen vortreten.«
Die messingbeschlagenen Flügeltüren direkt gegenüber dem Vorsitzenden wurden geöffnet und drei Personen traten ein. Ihre Bewegung in der länglichen Kabine war genau vorgeschrieben: Ein verschnörkeltes Oval als Muster auf dem Teppichboden wies den Bereich zu, in dem die vorsprechenden Personen zu stehen hatten. Flankiert wurde die markierte Fläche von zwei langen Tischreihen, zu jeder Seite eine, an denen je zehn der Mitglieder saßen und die Befragten neugierig und aufmerksam beäugen konnten. Kein Zucken der Personen im Zeugenstand, keine Bewegung, kein noch so kleines Detail konnte ihnen so entgehen. Doch trotz der strengen Beobachtung fühlte man sich nicht unbehaglich. Alles wirkte ordentlich, die Einrichtung war gediegen und strahlte eine gemütliche Atmosphäre aus. Exakt einhundertfünfundzwanzig Lämpchen standen über die Tischchen und Fensterbänke verteilt, und ihr heller Schein drang durch die Fenster, die rund um die Gondel angeordnet waren, weit in die beginnende Nacht.
Einige der Mitglieder klemmten ihre Monokel unter die Augenbrauen, als sich die beiden Männer und eine Frau auf das gekennzeichnete Areal in der Kabinenmitte stellten. Es waren einfache Leute, in Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln und schlichter Weste. Die Frau trug ein schmuckloses Kleid aus Bluse und Rock mit einer Schürze und einem Tuch um die Schultern, ihre Haare waren in Flechtzöpfen hochgesteckt. Fast synchron begrüßten sie den Vorsitzenden mit der vorgegebenen Handgeste.
»Nun, was ergaben Ihre Beobachtungen?«
Einer der Männer trat vor und händigte dem Vorsitzenden eine Mappe aus, in der sich ein Stapel Papiere und zuoberst ein Porträt befanden. »Wir haben diesen Mann hier im Auge. Er experimentiert bereits seit einer Weile an einer neuen Erfindung mit dem Ziel, sie patentieren zu lassen.«
Der Adjutant, der direkt hinter dem Logenführer stand und ihm die meiste Zeit nicht von der Seite wich, reckte seinen Kopf und trat neben den thronartigen Stuhl. Er beugte sich so nah zum Vorsitzenden hinab, dass er schon fast in dessen Pomade klebte, mit der das dunkle Haar sorgfältig zurückgegelt war. So leise, dass nur der Logenführer es hören konnte, flüsterte er: »Dieser Mann ist uns durchaus bekannt. Er hatte schon öfters an neuen Apparaturen gearbeitet und wird nicht müde, es erneut zu probieren. Versuche, ihn schonend in die Loge einzuführen, scheiterten.«
Der Vorsitzende nickte und gab mit einem Handwink zu erkennen, dass sich der Adjutant nun wieder aus seiner Frisur entfernen dürfe.
»Irgendwelche Ergebnisse? Handfestes?«
Behutsam folgte der zweite Mann der durch ein Rankenmuster vorgegebenen Linie auf dem Teppich zum Tisch des Großen Vorsitzenden. Ohne Worte stellte er einen Glaskolben mit einer stark riechenden, gelblichen Flüssigkeit neben die Dokumentenmappe. Der Vorsitzende fächelte mit einer Hand den Geruch zu seiner Nase und nickte bestätigend.
»Ja, kennen wir. Das ist ein Kerosin-Gasöl-Gemisch. Wurde bereits öfters erfunden und von mehreren Personen unabhängig voneinander hergestellt.«
Er schob den Glaskolben zur Seite, wo ein Bediensteter ihn an sich nahm und aus dem Raum trug.
Die Frau räusperte sich und zog augenblicklich die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf sich. In ihren Händen hielt sie ein großes zusammengerolltes Blatt, das sie sofort zu öffnen begann. »Wir haben sogar genaue Zeichnungen seiner Prototypen für die Maschine, die mit diesem Gemisch zum Laufen gebracht werden soll, auftreiben können. Hier...« Mit einer schwungvollen Bewegung landete das Poster auf dem Tisch, die aufgerollten Enden wurden rasch zu den Seiten geschoben und mit Logendevotionalien wie dem Ordensbecher und der Holzkugel beschwert.
Ihre Stimme zitterte leicht vor unterdrückter Aufregung, als sie beflissen ihre Darstellung beschrieb und ihre Finger zur Unterstützung der Ausführungen über das Papier huschten. »Hier können Sie sehr genau die Details im Aufbau der Kolben sehen. Dies hier sind die Pumpen, die Pfeile markieren die Bewegungen. Die exakte Beschreibung zur Funktionsweise der so benannten Wärmekraftmaschine liegt in den mitgeführten Dokumenten vor.«
Das Monokel fest in die Augenhöhle geklemmt, studierte der Vorsitzende die Zeichnung und die nebenstehenden Beschreibungen gründlich. Minuten vergingen, ohne dass einer der Anwesenden sich rührte oder etwas zu sagen wagte.
»Hm...«, murmelte er schließlich und blickte von dem Poster auf. »Sieht aus, als könnte dies ein erfolgreicher Versuch sein.«
Die Mitglieder nickten einander zu, und einige begannen leise raunend eine Diskussion.
»Wie nimmt sein Umfeld diese Idee auf?«, unterbrach der Vorsitzende das Gemurmel mit lauter Stimme.
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