Staryy Medved selbst war wegen Mitwirkung in einer kriminellen Organisation und Befehligung mehrerer Gewalttaten verurteilt worden, eine aktive Beteiligung an den Taten konnte man ihm nicht nachweisen. Acht Jahre hatte er bekommen, davon waren drei bereits abgesessen.
Schon nach kurzer Zeit hatte er alles Notwendige für eine Flucht veranlasst und nach zwei Jahren war der Tag des Ausbruchs gekommen. Aber just zu diesem Zeitpunkt hatte man ihn in einen anderen Block verlegt und zu einem völlig unbekannten Insassen in eine Zelle gesteckt. Offiziell hieß es wegen guter Führung und seiner Sozialverträglichkeit, der offensichtliche Platzmangel in dem überfüllten Gefängnis war aber wohl der wahre Grund gewesen. Die Einzelhaft war für gewalttätige Insassen reserviert. Aber auch seine neue Unterbringung war ursprünglich eine enge Einzelzelle gewesen, nur dass sie jetzt mit zwei Häftlingen besetzt wurde.
Anfangs hatte der Russe protestiert, alle Beziehungen aktiviert und Hebel und in Bewegung gesetzt, um seine Einzelzelle zurückzubekommen, aber dies war nicht so schnell möglich gewesen. Man hatte aber sein Anliegen prüfen und bei Entspannung der ausgeschöpften Kapazitäten darauf zurückkommen wollen. Das bedeutete, nicht innerhalb der nächsten Monate.
Sein neuer Zellengenosse war Franzose gewesen, nichtslawischer Abstammung, mit einem durchtriebenen Blick, aber er hatte sich überwiegend wortkarg zurückgezogen, so dass er kein großer Störfaktor gewesen war. Seine Geschäfte erledigte der alte Bär ohnehin auf dem Gefängnishof mit seinen Handlangern und dafür blieb ihm Gelegenheit und Zeit genug, nicht zuletzt wegen der großzügigen Überweisungen auf das ein oder andere Konto der aufsichtführenden Wärter.
Wären da nicht die seltsamen und immer wiederkehrenden Träume des Franzosen gewesen, in denen er wiederholt im Schlaf gesprochen hatte, hätte Staryy Medved seine Fluchtpläne schnell wieder aufgenommen. Aber das nächtliche Gemurmel seines Mithäftlings hatte ihn an seine eigenen Träume erinnert und deshalb überaus neugierig gemacht. Und so hatte er sich bemüht, den scheinbar undurchdringlichen Schutzpanzer, den der kleine Franzose um sich aufzubauen versuchte, zu knacken, um ihm näher zu kommen. Hilfreich dabei war ihrer beider Vorliebe für das Schachspiel und sie lieferten sich anfangs so manche schweigsame Partie mit unterschiedlichem Ausgang.
Anfänglich hatte sich der glatzköpfige Mann mit der Hakennase gegen die Versuche, sich ihm kommunikativ zu nähern, gesperrt, aber der alte Bär war ein Meister der Manipulation und hatte es binnen weniger Wochen geschafft, dass sich sein neuer Freund ihm völlig öffnete.
Der Franzose war kein geringerer als Philippe Renard, der ehemals mächtige Geheimdienstchef der französischen Staatssicherheit, der wegen Landesverrats und mehrfachem Mord eine lebenslange Gefängnisstrafe abzusitzen hatte. Aus seiner Sicht völlig zu Unrecht. Dies allein machte ihn schon zu einem idealen Kompagnon für den Russen, um sein Beziehungsgeflecht weiter auszubauen. Mit Sicherheit hatte Renard immer noch seine geheimen Fäden aktiviert. Aber viel spannender waren tatsächlich die Informationen gewesen, die er im Traum von sich gegeben hatte und die der alte Bär zu ordnen versuchte. Nach und nach hatte er sich in den intensiven Vier-Augen-Gesprächen mit dem Franzosen an das Thema heran getastet, der nur widerwillig dazu Auskunft geben wollte. Aber die Optionen, die Renard von seinem russischen Kameraden aufgezeigt bekam, nämlich einen Weg aus dem Gefängnis und als sein Partner in Freiheit agieren zu können, machten ihn redseliger als er das ursprünglich vorhatte.
Und so erfuhr Staryy Medved von einer magischen Uhr, die Renard tatsächlich auch schon kurzzeitig in der Hand gehalten hatte. Der sein Vater schon auf der Spur gewesen war. Die fast hundert Jahre verschollen und plötzlich wieder aufgetaucht war. Die einen Blick in die Vergangenheit gewähren konnte, welchen Zeitpunkt man auch immer darauf einstellte. Die ungeahnte Macht bedeutete. Und die sich derzeit wahrscheinlich in den Händen eines Amerikaners in Deutschland befand.
Gelegentlich hatte der Russe das Gefühl gehabt, der arabische Mitinsasse mit den vielen Goldzähnen, der immer die Zeitungen brachte, hätte sie belauscht. Auffällig häufig war er plötzlich erschienen, um seine Magazine und Zeitungen vom Vortag anzupreisen. Daher hatten sie die Gespräche ins Freie verlegt, wo sie von den russischen Befehlsempfängern abgeschirmt werden konnten.
Philippe Renard war inzwischen der Verbündete des alten Bären geworden, er war der Einzige, der auf der hierarchischen Treppe im Gefängnishof auf seiner Stufe neben ihm Platz nehmen durfte. Dort, wo sie sich unbelauscht zu dem einzigen Thema, das sie derzeit beschäftigte, austauschen konnten. Und dem Franzosen war die offenbar steigende Ehrerbietung ihm gegenüber anzumerken, seine Haltung war immer aufrechter und seine Offenheit grenzenlos geworden. Obwohl Staryy Medved ihn ausquetschte wie eine Zitrone, um auch noch an die letzte Einzelheit des Geheimnisses heranzukommen, schien Renard nicht zu erkennen, dass er nur missbraucht wurde und in Wirklichkeit keinerlei reelle Chance auf eine ebenbürtige Partnerschaft mit dem Russen hatte. Aber in seinem Fanatismus, die magische Uhr betreffend, war er blind, besessen von der Möglichkeit, sie zurück zu erlangen.
Ein schriller Signalton erklang und beendete damit den heutigen Freigang der Gefangenen. Der stärker werdende Nieselregen machte dies zu einem nicht allzu bedauernswerten Umstand und die Häftlinge drängten sich zu dem Tor, das sie ins Trockene ließ. Nur zwei Männer verharrten auf ihren Plätzen ungeachtet des feuchten Wetters und ungehindert vom Wachpersonal.
Auf der obersten Stufe der Tribüne startete nun ein weiterer Abschnitt eines endlosen Gesprächs, das mehr einem Verhör glich, nur der Verhörte empfand das nicht so. Er sah die Unterhaltung eher als eine erneute Chance ausschweifend über sein Lieblingsthema zu sprechen, seine Sicht der Dinge zu äußern und Pläne zu schmieden. Doch war ihm nicht bewusst, dass er an diesen Plänen selbst gar nicht teilhaben würde.
Dubai, Freitag, 6. Oktober, 17.30 Uhr
Der Blick aus der 154. Etage war atemberaubend. Man hatte nicht mehr das Gefühl in einem Hochhaus zu sein, die Perspektive entsprach eher der Sicht aus einem Flugzeug. Hier im obersten und teuersten Stockwerk der nutzbaren Etagen des Burj Khalifa befand sich das exklusive Büro der Unternehmensberatung Falcon Feather Consulting, doch Publikumsverkehr gab es hier keinen. Auch Beschäftigte suchte man vergebens auf den rund sechshundert Quadratmetern edelster Tagungs- und Besprechungsräume.
Die Räumlichkeiten waren luxuriös ausgestattet in einer Kombination aus traditionellen arabischen Teppichen und Accessoires und modernem Designermobiliar. Originalgemälde alter Meister hingen an den Wänden und teure Schmuckstücke zierten Sideboards und Vitrinen. Alles, was hier goldfarben glitzerte, waren nicht etwa vergoldete Antiquitätenkopien oder gar billige Touristensouvenirs, es waren massivgoldene Skulpturen und Schätze aus alter Zeit, reich verziert mit funkelnden Edelsteinen.
Dies alles gehörte keinem Geringeren als dem Emir von Dubai höchstpersönlich, dem gütigen und diplomatischen, aber auch mit harter Hand regierenden Oberhaupt des kleinen und mächtigen Emirats am Persischen Golf. Sein Vater hatte bereits nach dem spektakulären Bau des weltgrößten Gebäudes die oberste Büroetage über Drittfirmen erstanden, um dort anonym geschäftliche Treffen zu arrangieren, weit ab von seinen Amtsräumen im Diwan und den Privaträumen seines Palastes.
Die beiden Männer, die am Fenster über das Lichtermeer Dubais blickten, hatten in diesem Moment aber wenig Sinn für diesen Reichtum oder auch das unvergleichliche Panorama. Sie trafen sich hier in diesen geheimen Räumlichkeiten des Emirs, um wichtige Angelegenheiten zu besprechen. Dinge, die die Geschichte der Familie und des reichen Emirats betrafen, die vergangene sowie zukünftige Geschichte.
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