„Raschid bin Hamdan, mein geliebter Neffe!“, sprach der Scheich mit ruhiger, großmütiger Stimme und zeigte mit einer majestätischen Geste auf das Lichtermeer in der Dämmerung unter ihnen. „Alles, was du hier erblickst, hat unsere Familie ermöglicht oder sogar selbst erschaffen. Kein Familienbund weltweit hat Ähnliches erreicht wie unsere Vorfahren und wir als jetzige Herrscher.“
„Ich weiß, Onkel, Verehrungswürdigster!“ Raschid beugte sich leicht vor und folgte demütig dem Fingerzeig seines Onkels. Trotz der familiären Nähe zu ihm und der Tatsache, dass der Emir ihn wie einen eigenen Sohn behandelte, fehlte es ihm nicht an Respekt.
„Schon vor dem Ölboom und dem Reichtum, den er nach der Gründung der Vereinigten Arabischen Emirate in unser Land schwemmte, waren unsere Familien trotz verhältnismäßiger Armut privilegiert“, fuhr der Emir fort und legte väterlich den Arm um Raschids Schultern. „Viele Schätze gehörten schon unseren Vätern, als sie noch Stammesfürsten waren und in der Wüste in Zelten lebten. Du kennst die Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und die die Öffentlichkeit nicht immer kennen muss.“
„Ja, Onkel, Verehrungswürdigster! Ich weiß um den Reichtum unserer Väter und deren Väter. Ich selbst profitiere ja auch davon.“
„Ja, das tust du und das ist auch gut so. Nie soll es unserer Familie an irgendetwas mangeln. Trotzdem bist du ein fleißiger und cleverer Junge, hast dein Studium erfolgreich absolviert und arbeitest im Ministerium deines Vaters. Das Außenministerium ist ein guter Ort, um internationale Erfahrungen in der Diplomatie zu sammeln, besonders für einen so talentierten jungen Mann wie dich.“ Jetzt klopfte der Scheich seinem Neffen auf die Schulter.
„Du beschämst mich mit deinem Lob, Onkel!“
„Nein! Das tue ich nicht! Du hast dir inzwischen einen Namen gemacht und mein Bruder, in seiner Funktion als Minister und ich sind sehr zufrieden mit deiner Arbeit. Du verfügst über viele Talente. Wie viele Sprachen sprichst du?“
„Neben den verschiedenen arabischen Dialekten und englisch noch weitere fünf. Mit chinesisch habe ich aber so meine Schwierigkeiten.“
„Ich glaube“, lachte der Emir laut auf, „mit chinesisch haben sogar die meisten Chinesen ihre Schwierigkeiten. Es heißt, es gibt nur wenige Chinesen, die tatsächlich alle Schriftzeichen beherrschen. Stimmt das?“
„Ich weiß nicht. Aber ich weiß, dass viele nur einen Bruchteil ihrer eigenen Sprache kennen. Ist das nicht traurig?“
„Ja, das ist es!“ Der Emir hob eine Augenbraue und wurde plötzlich ernst. „Ich habe dich aber nicht hier her gebeten, um mit dir deine berufliche Karriere zu besprechen. Die hast du, so glaube ich, ganz gut selbst im Griff. Du erfüllst mich und unsere Familie mit Stolz. Und das ist auch der Grund, warum du hier bist.“
Der junge Emirati schaute seinen Onkel mit fragendem Blick an. Dieser drehte sich zu ihm, ergriff mit beiden Händen seine Schultern und sah ihm tief und eindringlich in die Augen.
„Raschid, ich habe Dringendes mit dir zu besprechen.“ Mit diesen Worten verdunkelte sich der Blick des Scheichs immer mehr. „Eine ursprünglich familiäre Angelegenheit, die aber auch ein internationales Problem darstellen könnte. Und ich brauche deine Hilfe. Du verfügst über die notwendigen Fähigkeiten und ich vertraue dir. Deshalb will ich diese heikle Sache in deine Hände geben.“
Raschid schien nicht wirklich begeistert, offenbar ahnte er bereits, dass es sich um eine riskante und delikate Angelegenheit handelte. „Und du glaubst, dass ich wirklich der Richtige dafür bin, verehrungswürdigster Onkel? Gibt es nicht erfahrenere Männer dafür?“
„Du bist der Einzige, der über die notwendige Kombination aus Loyalität, Sprachkenntnissen und anderen Fähigkeiten verfügt, die du dir nicht zuletzt in der Sondereinheit zur Terrorbekämpfung angeeignet hast. Du hast eine besondere Ausbildung genossen und kennst die verstrickten Wege der Diplomatie. Aber eben auch die Wege daran vorbei. Und du hast das Wichtigste: mein grenzenloses Vertrauen.“
Jetzt erst ließ der Emir die Schultern seines Neffen los. Sein Blick bohrte sich aber noch tiefer in die schwarzen Augen des jungen Mannes. „Ich will und kann dich nicht zwingen, Raschid. Ich bitte dich als mein Vertrauter und Mitglied unserer Familie. Und im Namen aller friedliebenden Völker dieser Erde!“
Raschid wurde bei den letzten Worten richtig mulmig zumute. Wie konnte er, ein kleiner Beamter des Außenministeriums, der gerade mal Mitte Zwanzig war, solch eine international wichtige Aufgabe übernehmen, die zudem noch offenbar mit der Familienehre zu tun hatte? Mitglied der Herrscherfamilie hin oder her, über seine Kenntnisse verfügten Hunderte andere auch, die mit Sicherheit mehr Erfahrung aufzubieten hatten. Aber er wusste, er konnte auf keinen Fall die Bitte seines Onkels ablehnen. Sie war nichts anderes als ein nett verpackter Befehl. Natürlich konnte er ihn nicht zwingen, aber hatte Raschid eine Wahl? Also nickte er vorsichtig und erwiderte den festen Blick des Emirs.
„Setz dich“, sagte dieser und führte Raschid zu dem mit Goldfäden bestickten Sofa. „Ich werde dir bei einem Glas Tee die Einzelheiten erläutern. Ich denke, ich brauche nicht zu erwähnen, dass unser Gespräch hier absolut vertraulich ist. Niemand, selbst unter Anwendung von Folter, darf von dem, was ich dir nun erzähle, jemals Kenntnis erlangen!“
Raschid schluckte bei dem letzten Satz, bestätigte er doch seine Befürchtungen, dass sich der Auftrag als gefährlich erweisen würde. Er setzte sich aber ergeben auf das Sofa und rieb seine feuchten Hände an seiner Kandura. In der Aufregung hatte er ganz vergessen, dass das Recht, sich als erster zu setzen auch hier unter vier Augen allein dem Emir gebührte.
„Wir werden gleich noch einen weiteren Mann hinzubitten, der uns mit neuesten Informationen versorgt“, begann der Emir geheimnisvoll, ungeachtet des Fauxpas‘ Raschids. „Er braucht aber nicht die Vorgeschichte zu hören, die ich dir zunächst erzählen möchte. Vor langer Zeit – ich hatte es eben schon erwähnt – verfügten unsere Väter schon über bescheidenen Reichtum. Nicht unbedingt Bargeld und gefüllte Konten, wohl aber über Gold und Edelsteine aus altem Familienbesitz. Aber, wie das eben nun mal so ist, gibt es auch immer Neider. Kriminelle, die das Eigentum anderer nicht respektieren. Und so sind, trotz der für die verschiedenen Zeitalter höchstmöglichen Sicherheitsmaßnahmen, immer wieder Überfälle verübt, Schätze gestohlen und geraubt worden. Menschen haben für die Vereitelung dieser Verbrechen ihr Leben riskiert und teilweise verloren, häufig wurden auch die Diebe ausfindig gemacht und ihrer gerechten Strafe zugeführt. Heute verfügen wir über Technologien und Möglichkeiten, solche Überfälle zu verhindern oder aufzuklären, in der Vergangenheit war dies leider nicht in diesem Maße möglich. Unterm Strich waren die meisten Verluste durch solche Verbrechen verkraftbar, dennoch ist jeder Angriff auf das Eigentum immer wieder wie ein Dolchstoß in die Magengrube.“
Der Emir machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck Tee. Raschid griff auch nach seinem Glas. Er fragte sich immer mehr, worauf dieses Gespräch hinauslief. War etwa jemand in den Palast eingebrochen? War etwas Wertvolles gestohlen worden?
„Die meisten der gestohlenen Schätze“, fuhr der Scheich fort, „tauchen nicht wieder auf. Sie gelangen auf dunklen Wegen zu privaten Sammlern, die dann einmal die Woche einen Tresor aufschließen, um sich heimlich an ihrem teilweise unrechtmäßig angeeigneten Reichtum zu erfreuen.“
Plötzlich hob der Emir den Finger und seine Stimme wurde lauter.
„Nun aber ist tatsächlich eine Spur aufgetaucht, die offenbar zu einem unserer wertvollsten Familienschätze zu führen scheint. Edelsteine, die vor fast hundert Jahren bei einem Raubüberfall erbeutet wurden. Ein uns wohl gesonnener Informant hat sich gemeldet und davon berichtet. Allah sei gepriesen!“
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