„Was ist das?“, fragte Dimitri, sichtlich enttäuscht, hatte er doch wenigstens einen alten Dolch oder einen blitzenden Militärorden erwartet.
„Das ist wohl das Tagebuch meines Großvaters. Ich habe keine Vorstellung davon, was ausgerechnet du damit sollst. Wahrscheinlich werfen wir es lieber gleich weg. Wer weiß, welches Ungeziefer da noch rauskrabbelt. Aber hier liegt ein Lesezeichen drin, das kannst du behalten. Das gefällt dir vielleicht.“
Sergej zog ein ledernes Band aus dem Buch, an dem ein phantasievoll gehäkelter Wollfaden hing, der wiederum am Ende einen glitzernden Stein eingeknotet hatte. Es sah alt, aber nicht so verschmutzt wie das Buch selbst aus. Irgendwie sogar auf seine Weise schön. Noch nie hatte Sergej ein solches Lesezeichen gesehen.
„Was steht da drauf?“ Dimitri zeigte auf einige schwer zu erkennende kyrillische Buchstaben, die das Lederband zierten. Sie waren zwar größtenteils verblichen, aber man konnte noch erkennen, wie kunstvoll sie auf dem Leder eingebrannt waren.
Sergej kniff die Augen zusammen und versuchte den Text zu entziffern.
„Blick zurück, doch nur mit den Augen!“
„Komischer Satz, was bedeutet das?“, fragte der Junge weiter. Er war aufgeweckt und wissbegierig und löcherte oft seine Eltern mit Fragen, auf die auch sie nicht immer eine Antwort wussten.
„Keine Ahnung, passt aber zu dem alten Spinner“, gab sein Vater kopfschüttelnd zurück.
„Sergej!“, wies Natalja ihn zurecht. „Sprich nicht so über dein eigen Fleisch und Blut!“
„Schon gut, schon gut! Also willst du das Band hier behalten, Dimitri? Das Buch werfen wir besser weg. Oder vielleicht können wir die Blätter ja noch zum Ofen anzünden nutzen.“
„Aber erst wenn ich es gelesen habe. Schließlich hat dein Großvater es mir hinterlassen!“ Dimitri klang bestimmt.
„Na gut, mein Sohn. Aber du musst wissen, dass der alte Anatolij nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Ich weiß nicht, was er da alles aufgeschrieben hat und ich will es auch gar nicht wissen. Aber geh mal davon aus, dass er sich mindestens die Hälfte davon nur zurechtgesponnen hat und es nichts mit der Wahrheit zu tun hat. Und komm bloß nicht auf die Idee, dass ich dir das vorlese, da hab ich bei Gott Besseres zu tun.“
Sergej reichte Dimitri das Buch und rieb sich die Handflächen an den Hosenbeinen ab.
„Und noch was“, fügte Natalja hinzu und sah ihren Mann vorwurfsvoll an, „wasch dir bitte jedes Mal danach die Hände, Dimitri! Mit Seife!“
An diesem Abend ging Dimitri früh ins Bett, machte seine Nachttischlampe an und holte das Tagebuch seines Urgroßvaters unterm Bett hervor. Dort hatte er es sicherheitshalber versteckt, bevor sein Vater doch noch auf die Idee kam, es zu entsorgen.
Die abendliche Schachpartie mit seinem Vater musste heute ausfallen, obwohl sie sonst seine größte Leidenschaft neben den Büchern war.
Zunächst betrachtete er das Lesezeichen ganz genau. Es sah irgendwie fremdartig und mysteriös aus. Wie von einer anderen Welt. Diese seltsame Gravur auf dem Leder und der transparent funkelnde Stein, der in den Faden eingebunden war. Dimitri untersuchte ihn sorgfältig. Es war eigentlich mehr ein Kristall, so groß wie seine Fingerkuppe und im Licht seiner Lampe schimmerte er in den schönsten Farben, manchmal sah es sogar so aus, als würde dieser Kristall winzige Funken versprühen, die dann wieder von ihm selbst eingesaugt wurden. War das vielleicht sogar ein Edelstein, oder gar ein Diamant? Dimitri hatte darüber gelesen und je mehr er diesen Stein betrachtete, desto mehr zog er ihn in seinen Bann. Und dann dieser kyrillische Spruch, was er wohl bedeuten mochte? Behutsam legte er das Lederband zur Seite.
Dann nahm er das Buch in Augenschein. Dimitri las gerne und viel, am liebsten phantastische Märchen oder spannende Geschichten, aber auch Reiseberichte von irgendwelchen Forschern, die um die Welt fuhren und fremdartige Dinge entdeckten. Leider hatte die Familie nicht so viele Bücher. Viele waren im Krieg vernichtet worden. Andere waren schwer zu besorgen oder teuer. Und viele Bücher der Stadtbücherei kannte er schon. Er hätte gern noch viel mehr gelesen, insofern kam ihm das alte Buch Anatolijs gerade recht. Es war ihm egal, wie viel darin nun wahr war und wie viel erfunden. Vielleicht war es ja spannend oder lustig.
Schon das Äußere war vielversprechend, auch wenn es nicht sonderlich dick war. Der lederne Einband war teilweise zerfressen und verdreckt, so mussten früher Logbücher von Piratenschiffen ausgesehen haben, in denen Schatzkarten oder geheime Botschaften versteckt waren. Vielleicht war ja auch der Stein ein Teil eines riesigen Schatzes, den er vielleicht eines Tages finden würde. Dann könnte er auch sein Versprechen einhalten, das er seinen Eltern heute am Essenstisch gegeben hatte.
Nun wollte der Junge sich dem Inneren des Buches widmen. Langsam schlug er es auf, dennoch rutschten ihm die ersten Seiten schon entgegen. Schnell klappte Dimitri das Buch wieder zu. Er drehte sich auf den Bauch, legte das Buch neben sein Kopfkissen und sortierte sorgfältig Blatt für Blatt wieder ein. Dann begann er zu lesen, wenn ihm auch die krakelige Handschrift etwas zu schaffen machte. Zeile für Zeile, Seite um Seite verschlang er die Sätze und Anmerkungen, die der alte Mann hinterlassen hatte.
Es war kein Tagebuch im eigentlichen Sinne. Mehr eine Erzählung einer unglaublichen Geschichte. So wie Dimitri es verstand, hatten die Eintragungen erst begonnen, als der alte Mann schon um die siebzig gewesen war.
Sie erzählten von einem arabischen Händler, dessen Onkel ihn zu dem alten Anatolij geschickt hatte. Er hatte aus einem Überfall auf einen reichen arabischen Prinzen einige Kostbarkeiten dabei, welche Dimitris Urgroßvater irgendwohin weiterverkaufen sollte, unter anderem einen ganzen Beutel voller magischer Kristalle. Offenbar war Anatolij so etwas wie ein Zwischenhändler von Diebesgut gewesen.
Jetzt erinnerte sich Dimitri an die mahnenden Worte seines Vaters zum Wahrheitsgehalt dieses Buches. Es klang alles so verrückt und unwahrscheinlich, eine richtige Räubergeschichte. Wie eben eines der Märchen, die Dimitri sonst las. Er stellte sich Ali Baba und die vierzig Räuber vor, sah sich selbst als denjenigen, der eines Tages mit der Aufforderung „Sesam, öffne dich!“ den unglaublichen Schatz finden würde.
Egal, sagte sich der Junge nochmals. Ob wahr oder nicht, spannend ist es allemal.
Und er las weiter.
Wie der Dieb vom Geheimnis der Kristalle erzählt hatte. Und wie dieser dann unter mysteriösen Umständen verschwand und erstochen aufgefunden wurde, noch ehe der Handel zustande kam. Wie Anatolij aus Angst die Steine, die der Araber ihm dagelassen hatte, im Garten versteckt hatte.
Dimitri hatte feuchte Hände, so sehr fieberte er mit seinem Urahn mit und verfolgte die unglaubliche Geschichte Stück für Stück.
„Dimitri, mein Schatz, es ist Zeit zu schlafen!“, riss ihn die Stimme seiner Mutter aus seinem Abenteuer. „Mach das Licht aus. du kannst morgen weiterlesen!“
„Morgen, morgen!“, brummte Dimitri. Wie konnte er ausgerechnet jetzt aufhören, diese Geschichte weiter zu verfolgen. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Alles, was den Jungen beschäftigte, war der Fortgang von Anatolijs Abenteuer. Und jetzt auch von seinem Abenteuer. Denn er war sich nun sicher, dass der Stein, der in das Lesezeichen einflochten war, einer der magischen Kristalle aus dem Schatz des arabischen Prinzen war.
Wieder rief seine Mutter mahnend die Treppe herauf. Dimitri kramte in der Nachttischschublade und fand seine Taschenlampe. Hoffentlich funktionierte sie noch lange genug. Ersatzbatterien hatte er keine und das Buch hatte er gerade erst einmal zur Hälfte durch. Er schaltete die Taschenlampe ein und die Nachttischlampe aus, dann verkroch er sich mit dem Buch unter die Bettdecke und tauchte wieder in sein Abenteuer ein.
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