Nachdem Anatolij seinen Schatz vergraben hatte, folgten zunächst keine Einträge mehr in seinem Buch, bis auf einen kurzen Satz circa zwölf Monate später, indem er seine Erleichterung niedergeschrieben hatte, dass man ihm wohl nicht auf die Spur gekommen war.
Erst viele Jahre später, 1934, hatte Anatolij das Tagebuch wieder zur Hand genommen und weiter geschrieben. Er hatte offenbar einen Vertrauten gefunden, dem er seine unglaubliche Geschichte anvertraut hatte und mit dem er gemeinsam einen Weg zu finden suchte, die Magie der Kristalle zum Leben zu erwecken.
Jetzt wurde die Geschichte völlig verrückt. Anatolij beschrieb, wie dieser Vertraute, ein Uhrmacher, es geschafft hatte, die Kristalle so anzuordnen, dass damit ein Blick in die Vergangenheit möglich wurde.
Dimitri hielt inne und schüttelte den Kopf. Bislang hatte die Geschichte zwar abenteuerlich geklungen, aber irgendwie noch ein bisschen realistisch. Oder zumindest hoffnungsvoll. Jetzt aber war wohl die Fantasie des Alten komplett mit ihm durchgegangen. Etwas enttäuscht klappte der Junge das Buch zu. Er legte das Buch zurück unter sein Bett und die Taschenlampe auf den Nachttisch.
Mit gerunzelter Stirn legte sich Dimitri zurück und starrte in die Dunkelheit. Spannend war diese Geschichte schon und er würde das Buch auch sicher bis zum Ende lesen, aber der Wunsch an dem Abenteuer teilzuhaben, den er eben noch gehegt hatte, hatte sich plötzlich in Luft aufgelöst. Der Traum von der Entdeckung des Schatzes war geplatzt in dem Moment, als die Geschichte dann doch zu utopisch geworden war.
Nein, es war wohl doch nur die Unfähigkeit eines alten Spinners Wahrheit und Fantasie auseinander zu halten.
Irgendwie schade!
Dimitri legte sich auf die Seite und kuschelte sich in sein Kopfkissen. Nur wenige Sekunden später war er eingeschlafen.
In dieser Nacht aber schlief der kleine Dimitri unruhig. Er träumte wie er durch den Garten auf das Feld hinter dem Haus lief, weg von seinem sicheren Zuhause. Er lief und lief, immer weiter, bis er plötzlich vor einem gewaltigen Felsen stand. Er blickte sich um, doch um ihn herum war nur noch Wald. Noch nie zuvor war er hier gewesen. Er starrte den riesigen Steinbrocken an. Ohne nachzudenken schrie er der Felswand die magischen Worte auf dem Lederband entgegen: „Blick zurück, doch nur mit den Augen!“, und vor ihm öffnete sich eine Höhle gigantischen Ausmaßes. Zögernd trat er ein und blickte auf ein Meer von Goldmünzen und Edelsteinen. Kilometerweit glitzerte und funkelte es. In der Mitte schwebte nur knapp darüber ein fliegender Teppich und auf ihm lag ein kleines Säckchen, was eigenartig schimmerte. In der Ferne sah er seine Eltern, die heftig ihre Arme schwenkten und ihm etwas zuriefen, das er aber nicht verstehen konnte. Sein Vater hielt das alte Tagebuch in der Hand und die Seiten rutschten heraus und fingen Feuer.
Mühsam kämpfte Dimitri sich durch den Goldschatz zu dem Teppich mit dem Beutel vor und öffnete ihn vorsichtig. Darin kamen Diamanten zum Vorschein, die in allen Farben funkelten. Er nahm eine Handvoll heraus und legte sie in einem Kreis auf dem kostbaren Teppich aus. Augenblicklich begannen sie zu leuchten und zu blitzen und in der Mitte des Kreises entstand wie von Zauberhand ein Bild. Bei genauerem Hinsehen war dort ein alter Mann zu erkennen, der sich als Anatolij vorstellte. Er winkte Dimitri freundlich zu und lachte. Dann plötzlich verfinsterte sich seine Miene und er signalisierte seinem Urenkel sich umzudrehen. Als der Junge hinter sich blickte, sah er vierzig bärtige Männer in Turbanen und mit gezückten Dolchen auf ihn zustürmen. Ihr Anführer hatte den längsten Bart und trug ein goldenes Amulett in Form eines Kobrakopfes um den Hals, dessen Rand mit den gleichen leuchtenden Edelsteinen besetzt war, wie sich in dem Sack befanden. Die Räuber stürzten sich auf Dimitri und hielten ihn am Boden fest. Der Junge wehrte sich nach Leibeskräften, hatte aber gegen die starken Arme der Turbanträger keinerlei Chance.
Der Anführer starrte ihn aus tiefschwarzen und zugleich funkelnden Augen an und rief: „Du Dieb!“
Dimitri blickte aus unschuldsvollen und flehenden Augen und versuchte zu sprechen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Keinen Ton brachte er zu seiner Verteidigung heraus.
Dann hob der Araber mit dem Amulett seinen goldenen Krummsäbel an und ließ ihn über dem Hals des Jungen nach unten schnellen.
In diesem Moment wachte Dimitri schweißnass auf und wusste augenblicklich, dass ihn dieser Traum sein Leben lang verfolgen würde!
Berlin, Donnerstag, 5. Oktober, 3.40 Uhr
„Wach auf, wach auf!“
Er hörte zwar das Flüstern, aber er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich, ob er noch schlief und träumte, oder ob die Stimme aus der Realität zu ihm drang. Das Rütteln an seiner Schulter rief ihn aber dann doch ins wahre Leben zurück.
„David, komm schon. Wach auf. Da ist jemand in der Wohnung!“
Die Stimme wurde lauter und entschlossener, aber auch hysterischer. Die Furcht in ihr war nicht zu überhören. Das wurde auch David Bishop langsam klar, wusste er sonst doch die glockenhelle und zarte Stimme seiner Freundin zu schätzen, die ihm eher ins Ohr säuselte, als ihn so unsanft zu wecken.
Er öffnete die Augen und blickte auf den Wecker. Drei Uhr zweiundvierzig. Nicht gerade die perfekte Zeit, um die Nacht zu beenden.
Wieder schüttelte Alex ihn an der Schulter.
„David! Hörst du das denn nicht? Da draußen ist ein Einbrecher!“ Nun überschlug sich ihre Stimme und wurde panischer. Ihr Blick richtete sich starr auf die Schlafzimmertüre. Fest umklammerte sie die Bettdecke und zog sie hoch bis an ihr Kinn.
David hob den Kopf vom Kopfkissen und versuchte sich zu konzentrieren. Jetzt hörte auch er es. Es klang wie das Klappern von Besteck. Er sah Alex an, die mit zerzausten Haaren zitternd im Bett saß, und nickte. Langsam schob er seine Beine über den Rand des Bettes und blickte sich nach etwas um, was man eventuell zur Selbstverteidigung nutzen konnte. Aber nichts sah danach aus, als konnte es einem Eindringling irgendwie Angst einflößen. Vielleicht konnte er dem Einbrecher ja die Socken vom Vortag an den Kopf werfen und er würde dadurch betäubt zu Boden gehen. David musste bei diesem Gedanken trotz der ernsten Situation grinsen.
Vorsichtig und ohne auch nur ein Geräusch stand er auf und zog sich seine Boxershorts über. Völlig entblößt wollte er nun doch nicht dem vermeintlichen Räuber gegenübertreten. Dann schlich er zur Tür.
Da vom Treppenhaus her auch nachts öfter ein Poltern der benachbarten Studenten zu hören war, lehnte er die Schlafzimmertüre immer an, was den Geräuschpegel ein wenig senkte. Nun lauschte er an der Türe und spähte durch den schmalen Spalt.
„Sei vorsichtig, David!“, flüsterte Alex mit bebender Stimme.
Auf dem Flur konnte David ein Flackern erkennen. Offenbar fuchtelte der Dieb mit einer Taschenlampe in der Küche herum. Leise hörte er unterdrücktes Fluchen.
Was sollte er nur tun? In die Küche marschieren und den Dieb zur Rede stellen und dadurch riskieren, irgendein Messer zwischen die Rippen zu bekommen? Oder Lärm machen? In der Hoffnung, der Einbrecher würde dann die Flucht ergreifen? Oder vielleicht doch zurück ins Bett kriechen und still verharren, bis der Fremde von sich aus wieder ging? Oder sollte David letztendlich seinen ersten Gedanken verfolgen und zum Gegenangriff übergehen? Schließlich hatte er den Überraschungseffekt auf seiner Seite. Allerdings war auch alles, was er im weitesten Sinne als Waffe nutzen konnte in der Küche. Ausgerechnet da, wo sich sein Widersacher aufhielt.
Immer noch kramte der Einbrecher in den Küchenschränken und Schubladen. Glaubte er etwa, David würde sein Bargeld in einem Kochtopf verstecken? So etwas machten doch für gewöhnlich nur alte Leute mit ihrem Notgroschen, die kein Vertrauen zu Banken hatten. Studenten wie David hatten ohnehin nie Bargeld, lediglich eine Kreditkarte eines schon längst überzogenen Kontos.
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