„Ich benötige eine verbale Antwort.“ Ich atme tief durch und sage: „Nein.“ Wie soll es auch? Dann spüre ich einen Stich im Nacken. Erschrocken schreie ich auf, mein Kopf wird nach hinten gezogen und ich durchlebe alles, was heute geschehen ist. Etwas wühlt in der Schwärze meines Geistes, sucht, stöbert, lässt mir keinen Platz zum Verstecken. Tief dringt es in mich vor und ich weiß, dass, wenn ich Geheimnisse hätte, es sie wie ein Staubsauger in sich aufsaugen würde. Doch da ist nichts. Wie kann da auch etwas sein? Ich fühle mich leer, weil ich leer bin. Wie eine Flasche hat man mich umgekippt und mein Inhalt, alle Erinnerungen sind im Sandboden versickert. Unerreichbar für mich. Für immer verschwunden?
Ich atme schwer und als ich glaube, ich müsste unter dem Druck zerbrechen, sehe ich in der Dunkelheit ein Licht. Verzweiflung kommt in mir auf und Angst. Was da auch immer in mir lauert, darf nicht gefunden werden. Kurz bevor der Staubsauger das kleine Licht erreicht, erstirbt der Sog. Ich keuche, zwinkere und spüre Arme um mich. Der Duft nach einer Sommerwiese erfüllt mich und Sunshine drückt mir ihre Lippen auf die Stirn.
„Es tut mir leid, aber ich musste sichergehen, dass wir alle Erinnerungen gelöscht haben. Die Prozedur ist nicht angenehm, aber jetzt besteht kein Zweifel, dass du neugeboren bist.“ Sie streichelt mir die Haare aus der Stirn und ich frage mich kurz, was passiert wäre, wenn sie das Licht in mir entdeckt hätte, wenn sie den Staubsauger nur einen Moment länger in mir hätte wüten lassen.
Ich halte den Mund, versuche ein Lächeln und taste vorsichtig in mir herum. Das Licht ist nicht zu finden, doch ich kann spüren, dass es da ist. Ich bin nicht vollkommen leer, etwas haben sie mir nicht nehmen können. Und was auch immer es ist. Ich werde es mit Zähnen und Klauen verteidigen. Kurz wundere ich mich, wo der Kampfgeist herkommt. Wieso sträubt sich in mir alles, wenn ich genau das hier wollte?
Sunshine legt mir ein weißes Armband um, Oktober Montag leuchtet schwarz auf der Anzeige auf, als ich das Armband berühre.
„Dein biologischer Charakter scheint sehr stark ausgeprägt zu sein. Viele Neugeborene können die erste Zeit nur Befehle befolgen. Die wenigsten sprechen direkt nach der Wiedergeburt und ich habe noch niemanden erlebt, der solche Fragen stellt wie du. Das ist ungewöhnlich. Du bist etwas Besonders.“ Das klingt nicht danach, als wäre es etwas Gutes. Ich versuche mich zurückzuhalten, doch mein Gesichtsausdruck scheint mich zu verraten.
„Charakterstärke kann etwas Gutes sein, aber es wird die Anfangszeit, die Akzeptanzphase, nicht erleichtern.“ Und wieder sind es all die kleinen Dinge, die Sunshine nicht sagt, die mich aufhorchen lassen.
Es ist besser sich anzupassen, nichts in Frage zu stellen und alles so zu akzeptieren, wie es ist.
Eine Frage liegt mir auf der Zunge, doch ich schlucke sie herunter. Und die unausgesprochenen Worte gesellen sich tief in mir zu dem Licht, das ich nicht erreichen kann: Was hätte Sunshine getan, wenn sie etwas in mir gefunden hätte?
„Lass mich dich in dein Zimmer bringen. Deine Zimmergenossen sind sicher schon gespannt auf dich.“
Zimmergenossen? Sunshine führt mich durch eine Tür, einen Gang entlang, dann eine Treppe hoch und vor meinen Augen explodiert eine Welt, zerreißt alles in Stücke, was ich geglaubt habe zu wissen. Ich öffne meinen Mund, doch kein Laut entschlüpft meinen Lippen. Vor mir sehe ich ein gläsernes Labyrinth aus Rolltreppen. Kreuz und quer überschneiden sie sich, winden sich umeinander. Auch wenn ich niemanden außer Sunshine und mir sehe, ist alles in Bewegung.
Glaswände rahmen das Labyrinth ein. Sie sind übersät mit Türen. Woher weiß man, wohin man rollt? Wie kann man entscheiden, wo man hin will und wie man dorthin kommt? Ich verliere das Gefühl für unten und oben und meine Knie werden weich. Dann spüre ich Sunshines warme Hand auf meiner Schulter.
„Keine Angst! Alles hat ein System. Alles hat einen Anfangspunkt und ein Ende. Ich bin da, bis du deinen eigenen Weg findest.“
Es klingt wie ein Versprechen. Es klingt wie eine Drohung. Ich bin überwältig und nicke nur, denke an das kleine Licht in mir, das im Moment das einzige Ziel ist, das ich habe.
Wie soll ich wissen, was ich will, wohin ich will, wenn mein altes Ich alles aufgegeben hat, was ich einmal war?
Wie kann ich eine Zukunft haben ohne Vergangenheit?
Wie kann ich stark sein, ohne zu wissen, was mich schwächt?
Wie kann ich laufen, ohne zu wissen, wie man geht?
Wie soll ich tauchen, wenn ich mich nicht daran erinnere, wie man atmet?
Was ist passiert? Was hat mich so zerstört, dass ich nicht mehr ich sein wollte?
Was habe ich getan?
Was wurde mir angetan?
Bin ich ein Täter?
Bin ich Opfer?
Bin ich noch ein Mensch oder ein Computer, bei dem man auf Neustart gedrückt hat?
Ich folge Sunshine wie in Trance, merke nicht, wie wir auf welche Treppe steigen, welche Abzweigung wir entlangrollen. Obwohl sich der Boden unter mir bewegt und ich einfach stehenbleiben könnte, setze ich einen Fuß vor den anderen. Warum? Was treibt mich an? Ich kenne niemanden, ich habe nichts. Und doch schreite ich der Zukunft entgegen, anstatt sie auf mich zukommen zu lassen.
Wo kommt der Drang her, wenn der Wille nicht existieren kann? Fragen über Fragen. Sie wollen aus mir herauspreschen, doch ich presse die Lippen aufeinander und schlucke sie herunter, presse sie tief in mich, bis sie zu einem stillen Teil von mir werden. Und ich bin. Etwas macht mich aus. Etwas treibt mich an. Meine Fragen schicken mich auf die Suche nach Antworten und ich erkenne die Bedeutung von Fragen, die mehr Kraft in sich tragen, als Antworten es je könnten.
Sunshine führt mich durch das Kubus-Labyrinth in einen gläsernen Gang. Nur Decke und Boden bieten dem Auge Ruhe. Die Wände sind alle durchsichtig und es wuselt umher, wie in einem Albino-Ameisenhaufen oder einem weißen Bienenstock. Die Vergleiche, die in mir auftauchen, erfreuen mich. Ich weiß, was Ameisen sind und Bienen. Das Wissen wärmt mein Herz und es dauert, bis ich die perfide Bedeutung des Glases erkenne.
Ich werde in einem Aquarium leben, ohne jede Möglichkeit auf Privatsphäre. Schlimmer als jedes Gefängnis, nimmt mir die Durchsichtigkeit jeden Freiraum. Mein Magen rebelliert. Das Wort Privatsphäre scheint riesig und ich kann es nicht fassen. Was bedeutet es? Was will ich tun, das niemand anderes sehen soll? Als mir Tränen in die Augen steigen, habe ich meine erste Antwort. Warum, weiß ich nicht, aber ich darf keine Schwäche zeigen. Ich kämpfe mit dem Kloß in meinem Hals, der Schwäche in meiner Brust und der Trauer, um etwas, das ich nie besessen habe: Freiheit.
Glas, das alles freigibt. Transparenz, die alle Geheimnisse im Keim erstickt. Zu viel, um gut zu sein. Mich umgeben keine Wärter, doch die Augen, die mich durch das Glas hinweg anstarren, sind auf Wanderschaft. Sie gehen auf die Suche nach Informationen über mich. Jeder Schritt wird zur Prüfung.
„Wir sind alle eine große Familie und haben keine Geheimnisse. Wir sprechen offen über alles. Ehrlichkeit wird hier groß geschrieben. Alle, die du hier siehst, durchleben gerade das gleiche wie du oder haben es durchlebt. Sie können dich führen, lenken und dir bei allem, was vor dir liegt, helfen. Das erste, das du lernen wirst, ist die Bedeutung der Gemeinschaft. Du bist nicht alleine.“ Sunshine lächelt mir aufmunternd zu, als sie bei einer Glaswand anhält und ihre Hand auf eine kleine Anzeigetafel presst.
Kurz leuchtet der Bildschirm grün auf, dann surrt es und ein Teil der Glaswand verschwindet in der Decke. Alles, was vorher nur ein bewegtes Stillleben gewesen ist, bekommt Volumen, einen Soundtrack. Stimmen sprechen leise miteinander, im Hintergrund höre ich das Rauschen eines Wasserfalls und das Zwitschern von Vögeln. Mädchen und Frauen stehen nach Größe sortiert wie Soldaten vor mir. Alle tragen sie die gleiche weiße Tunika und ein weißes Armband um ihr linkes Handgelenk.
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