Zwei Tage später, klingelte unser Telefon. Meine Schwiegermutter war dran, völlig aufgelöst und uns versichernd, wenn nicht schnell Hilfe käme, wäre Joe spätestens morgen Halbwaise. Es ginge Vadder so schlecht, dass er nicht mehr aufstehen könne. Zudem behielt er nichts bei sich und stöhne nur noch.
Alarmiert rief Joe Ivo an. Mein Mann ist ein Bär, aber seinen kräftigen Vater allein stemmen, traute er sich nicht zu.
Stunden später kamen sie zurück. Niedergeschlagen und besorgt. Vadder sei jetzt im Krankenhaus. Morgen müsse man das Gespräch mit einem Arzt suchen. Heute wäre noch zu früh für Prognosen, da erst noch zahlreiche Untersuchungen liefen.
Am nächsten Tag standen wir vor einem teilweise ratlosem Stationsarzt. Die Diagnose habe eine verschleppte Erkältung und eben den Harnwegsinfekt bestätigt, aber warum der Allgemeinzustand meines Schwiegervaters so besorgniserregend war, konnte man nicht näher definieren.
Merkwürdigerweise ginge es ihm heute tatsächlich schlagartig besser. Darüber freuten sich alle, aber eine Erklärung suchte man dennoch vergeblich.
Die gab uns dann aber unser Pulsbeschleuniger selbst, als wir ins Zimmer kamen. Er begrüßte uns fröhlich schimpfend, dass er, sobald er wieder nach Hause käme, als erstes den Hausarzt aufzusuchen gedenke, um ihm tüchtig die Meinung zu sagen, was für einen Dreck er verordne.
Entsetzt schauten Joe und ich uns an. Vadder war doch gar nicht beim Arzt gewesen. Phantasierte er etwa?
So setzte ich vorsichtig an, fragte, wie er denn darauf käme und er schimpfte noch lauter, dass meine Schwiegermutter nie wieder zu diesem Kurpfuscher gehe. Basta.
Was hatte nun wieder Joes Mutter damit zu tun? Sie war dort in guten Händen und der Arzt hatte sie immer bestens mit passenden Medikamenten unterstützt, um ihre körperlichen Gebrechen und die langsam beginnende Demenz für sie erträglicher zu machen.
Aber um genau diese Medikamente ginge es doch, keifte der Pulsbeschleuniger schließlich. Am eigenen Leibe habe er ja nun erfahren müssen, mit was für einem Gift die Gesundheit seine geliebte Frau gefährdet würde.
Und dann dämmerte es uns: Schwiegervater meinte, als der Infekt anrückte, was seiner Frau gut täte, dürfte auch für ihn nicht schlecht sein. Was das alles für Medikamente waren, schien ihm egal. Es half meiner Schwiegermutter. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Und so schluckte er einfach tagelang wild einen Mix ihrer Tabletten. Ob die nun für das Herz, gegen Wassereinlagerungen oder Blutverdünner waren, interessierte ihn doch nicht. Medikamente hätten gesund zu machen. Ihn hatte der Cocktail nieder gestreckt.
Ab dem Tag hatte der Pulsbeschleuniger Verbot, sich den Tabletten seiner Frau zu nähern, es sei denn, er würde ihr behilflich sein, vorher genau eingeteilte Dosierungen einzunehmen.
Was das nun aber mit dem Augenarzttermin zu tun hatte, verstand ich nicht. So sah ich Joe umso fragender an.
„Naja, Vadder hatte schon Recht, dass der Arzt heute alle Geschütze auffuhr. Musste er ja auch.“ und dann kam die ganze Geschichte heraus.
Mit Brille, so stellte auch der Augenarzt fest, konnte Schwiegervater nichts mehr richtig erkennen. Ohne auch nicht und so vermaß der Arzt die Augen, tropfte, sah durch moderne Geräte ins Innere der Augen, verglich immer wieder, nahm mehrfach die Brille in die Hände und schüttelte den Kopf.
Er könne sich das auch nicht erklären, aber hier stimmte ja gar nichts überein. Entschuldigend legte er fest, im Grunde nur so tun zu können, als säße mein Schwiegervater zum ersten Mal beim Augenarzt. Alles wurde neu berechnet und ausprobiert, dann bekam er ein Rezept für eine neue Brille und während der Pulsbeschleuniger noch vor sich in schimpfte, dass er eigentlich wenig Lust hätte, schon wieder eine teure Brille kaufen zu müssen, nahm der Arzt meinen Mann zur Seite, vorsichtshalber einen Termin in wenigen Monaten zu machen, um die unerklärlichen Veränderungen an den Augen seines Vaters, gewissenhaft kontrollieren zu lassen.
Auch Joe war beunruhigt und begleitete seinen Vater hinaus, während er ihn milde zu stimmen versuchte, dass dieser ja vorerst nicht das teuerste Brillengestell nehmen müsste, wenn er sich um die Kosten sorgte. Aber in ihm brannte auch die Frage, wann er denn die letzte Brille gekauft habe, wenn er nun von „schon wieder so einer teuren Brille“ sprach.
„Des weeß iche doch net mer!“ moserte der Pulsbeschleuniger, beim Einsteigen in den Fahrstuhl „Ds is bolle fuffzen Johr her. Abr ds wor echt hoppich, ws ds gekust hot!“
Während Joe dies schmunzelnd sacken ließ, fuhr sein Vater fort. Mit seiner Frau müsste er nun also auch zum Augenarzt. Wie er darauf käme, fragte mein Mann, noch nachdenklich, da doch von seiner Mutter, dem Arzt gegenüber keine Rede war.
„Na, wenn iche all net mer sehn konn, donn de Mudder ach net. Ws gleebstn Du, walche Brill ich da hob? Meene is doch all zehn Johr kabudd. Deshalle hob ich doch de gonze Zeet die alde Brill vonner Mudder getrogn.“
Und dann verstand Joe endlich.
Es war wie mit den Medikamenten damals: Was für die Mutter gut war, konnte auch nur gut für den Vater sein!
Vierzehn Jahre waren wir ein Team. Und zum Schluss sah man der greisenhaften Dame ihr Alter mehr als an. Lag es vielleicht an den unzählbaren Umdrehungen, im Laufe ihres Lebens, vielleicht auch an der schweren Arbeit im Kampf gegen die Flecken der ganzen Familie, Babys, Heranwachsender, Teenager, Erwachsenen, aber auch Haustiere.
Es ist ja nicht so, dass sie ein leichtes Dasein bei uns gefristet hätte. An manchen Tagen lief sie im Dauerbetrieb, wie in einem Testlabor.
Nur eben nicht mit künstlichen Flecke, auf weißen Shirts, wie in der Werbung, sondern knallharten, realen Verschmutzungen.
Ich weiß noch, wie sie damals bei uns einzog. So neu, unverbraucht. Und wie ich die ersten Ladungen Wäsche aus ihr heraus zog, begeistert von all den hochmodernen Funktionen.
Heute sind sie wohl technisch mit einem Waschbrett vergleichbar.
Ja, ich werde melancholisch, wenn ich mich nun von ihr trennen muss. All die Erinnerungen...
Fast ein wenig berühmt wurde sie, als ich einst beschrieb, wie mein BH-Bügel die Maschine blockierte, Joe und Till in sie hinein krochen, um sie ins Leben zurück zu rufen, weil das billiger war, als mir eine Brust-OP zu finanzieren.
Zum Schluss verlangte sie fast halbjährlich Motorkohlen und ich glaubte nicht selten, sie hielte sich, mit zunehmendem Alter, für ein Kohlekraftwerk, das gefüttert werden wollte.
Aber sie war tapfer.
Selbst als sie einen schweren Bruch der Trommelfederung hatte, bei jedem Schleudern einen Zickzacklauf durch die Waschküche machte und mit vereinten Kräften an ihren Platz zurück getrieben werden musste.
Nicht einen Schmerzenslaut in all den Jahren. Auch dann nicht, als der Rost an ihr zu nagen begann und die Gummidichtung sich so gar nicht mehr befestigen lassen wollte. Oder alle Babysocken, die in ihr Zwangs geschieden wurden, von denen immer einer unauffindbar in ihr blieb.
Ja, im Laufe der Jahre wurde sie inkontinent, stand immer öfter in ihren eigenen Pfützchen, aber wir konnten ihr nicht böse sein. Sie gab ja einfach ihr Bestes. Selbst dann noch, als die Kontakte langsam davon gammelten und Kabel sich auflösten.
An ihr lernten mein Mann und meine Söhne, wie viel Geld für Kundendienst und teure Ersatzteile man sparen kann, wenn man sich selbst, in der Praxis, zum Waschmaschinendoktor hocharbeitet.
Nun ist es Zeit Abschied zu nehmen, sie feierlich ins Auto und zur Müllumschlagstation zu bringen, wo sie eine ehrenhafte Bestattung bekommt.
Sie hat ihren ewigen Frieden verdient.
Ich sträubte mich anfangs, überhaupt nach einer anderen Maschine Ausschau zu halten. Wenigstens ein bisschen trauern, um die bevorstehende Trennung, dürften mir doch gestattet sein.
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