Ich stand am Fenster und sah auf den Pick-up hinunter, in dem Winter und Lucas saßen. Ihre Vertrautheit war deutlich. Meine Schwester sehnte sich so sehr nach ihm und auch Lucas schien sie alles andere als egal zu sein. Zum ersten Mal empfand ich so etwas wie Eifersucht. Mein Herz zog sich zusammen, wenn ich die beiden so eng beieinander sah und ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie es sich für Winter angefühlt haben musste, als sie mich gesehen hatte, wie ich Lucas küsste. Es spielte keine Rolle, wer von uns beiden den ersten Schritt gemacht hatte, der Kuss war passiert und Winters Herz damit gebrochen. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es tun. Nicht nur um ein paar Wochen, sondern um mindestens ein Jahr. Ich wusste noch genau, wann mein Leben anfing, aus dem Ruder zu laufen, auch wenn ich mir die meiste Zeit verbot daran zu denken. Danach ging es immer weiter bergab. Alles war mir wie eine große Lüge erschienen und ich hatte ausbrechen wollen. Etwas Großartiges erleben. Ein Abenteuer. Frei und ungebunden sein. Tun, was mir gefällt, ganz egal, was andere von mir erwarten. Wer braucht schon Schule?! Was interessiert mich meine Zukunft?! Ich will leben und zwar JETZT!
Das waren meine damaligen Gedanken gewesen. Wenn ich heute an sie zurückdachte, schämte ich mich dafür. Ich war egoistisch gewesen und hatte nie an andere gedacht. Nicht einmal an meine eigene Familie. Sie waren immer verständnisvoll gewesen und hatten mir meine Freiheiten gelassen, sodass ich nicht geglaubt hatte, dass ich Rücksicht auf sie nehmen müsste. Meine Eltern hatten doch Winter, die Mustertochter. Wofür brauchten sie dann noch mich? Egal, wie sehr ich mich auch bemüht hätte, ich wäre nie so gut wie Winter gewesen. Warum es dann überhaupt versuchen? Ich war nicht eifersüchtig auf sie, dafür liebte ich meine kleine Schwester viel zu sehr. Aber dadurch, dass Winter so vollkommen war, gab es für mich keinen Grund, mir Mühe geben zu müssen. Winter würde sich schon um alles kümmern.
Ich war eine miserable Schwester! Durch die Erkenntnis spürte ich erneut den Drang in mir, wegzulaufen und dieses Mal nicht zurückzukommen, aber ich kämpfte dagegen an. Ich hatte versprochen, mich zu bessern.
Die Schatten zogen an mir, wie immer, wenn ich innerlich aufgewühlt war. Ich ließ den Rollladen herunter und öffnete das Fenster einen Spalt, dann legte ich mich in mein Bett und zog mir die Decke bis zum Hals. Aus dem Badezimmer drang das Geräusch der Dusche. In etwa zehn Minuten wäre Mona fertig und würde so leise wie ein Geist in das Zimmer getappt kommen und sich unter ihrer Bettdecke verstecken. Der Regen schlug leise gegen das Fenster. Ich sah auf die digitale Uhr auf meinem Nachttisch: 20.36 Uhr. Nicht einmal neun Uhr. Vor einem halben Jahr wäre ich erst jetzt aufgestanden, um bis zum nächsten Morgen die Nacht in einer Kneipe, einem Club oder bei jemand anderem zu Hause zu verbringen. Es wäre Alkohol geflossen, der eine oder andere Joint hätte die Runde gemacht und vielleicht wären auch ein paar Pillen in meinen Mund gewandert. Ich hätte auf dem Tisch getanzt, mich an Männern gerieben, deren Namen ich nicht kannte und mich auch nicht interessierten. So sehr ich dieses Bild von mir verabscheute, sehnte ich mich nach dieser Unbeschwertheit. Zu dieser Zeit war mein Kopf nie klar genug gewesen, um mir Sorgen machen zu können. Ich hatte für den Moment gelebt und alles andere war mir egal gewesen.
Die Tür öffnete sich leise und Mona trat ein. Sie legte sich ruhig auf ihr Gästebett. Ich wusste, dass sie lange brauchte, um Schlaf zu finden, aber sie gab nie irgendein Geräusch von sich. Erst wenn sie schreiend aufwachte, wusste ich, dass sie überhaupt geschlafen hatte. Ich drehte ihr den Rücken zu und schloss die Augen. Mein Leben fühlte sich schwer an. Wie sollte ich jemals damit zurecht kommen? Würde Winter je aufhören, mich zu hassen? Ich dachte an Lucas und seine Augen, mit denen er mich immer ansah, als sei ich der tollste und einzigartigste Mensch auf der Welt. Nicht einmal ich konnte übersehen, wie sehr er mich liebte. Er wollte immer nur das Beste für mich und sah auch immer nur das Beste in mir. Aber sah er wirklich mich? Ich war alles andere als gut. Ich stellte mir vor, er wäre hier und würde mir direkt gegenüberliegen. Seine Hand würde meine finden und festhalten. Seine Haut wäre warm und tröstlich. Ich könnte meinen Kopf an seine Schulter schmiegen und er würde mir über den Rücken streicheln. Ich würde meinen Kopf seinem Gesicht entgegenheben und unsere Lippen würden sich zu einem Kuss verschließen. Ich sehnte mich danach, ihm nah zu sein. Wenn wir eins wurden, würde er vielleicht die schlechten Seiten in mir auslöschen. Aber ich konnte mich ihm nicht öffnen. Ich würde Winter verlieren. Für immer. Meine kleine Schwester. Mein Herz.
Mrs. Murphy saß an ihrem Pult und las in der Zeitung, während wir die Aufgabe hatten, ein Stillleben zu zeichnen. Kunst gehörte zu den vielen Dingen, in denen Winter mit Abstand besser war als ich. Selbst von der anderen Seite des Raums aus, konnte ich sehen, wie ihre Zeichnung Gestalt annahm. Noch beeindruckender war allerdings das Werk ihrer Freundin Dairine. Sie schien beinahe fertig zu sein, während sich auf meinem Blatt nur ein paar Striche und Kreise befanden. Monas Blatt hingegen glich einem schwarzen Loch. Ihr ganzes Papier war bereits schwarz angemalt und trotzdem hörte sie nicht auf, ihren Pinsel in die schwarze Farbe zu tunken. Dairine sagt etwas zu Winter und die beiden lachten. Ich wollte zu ihnen gehören, wollte ebenfalls mit einer Freundin über etwas lachen können. Es war lange her, dass ich eine Freundin gehabt hatte. Ein Mädchen, mit dem ich meine Geheimnisse teilen konnte. Kylie hatte sich bereits vor Jahren von mir abgewandt, zurecht. Jetzt war sie tot. Liam hatte sie umgebracht.
Ich blickte wieder auf das Blatt vor mir und versuchte, den krummen Kreis in einen Apfel zu verwandeln, als plötzlich zwei Mädchen an meinem Tisch vorbeigingen. Wie zufällig, stießen sie dagegen und kippten unachtsam den Becher mit dem Wasser über meiner Zeichnung aus.
„Oh, das tut mir leid“, rief die eine aus und legte sich bestürzt die Hand vor den Mund. Doch ihre Augen verrieten sie. Es tat ihr nicht leid. Sie hatte es mit Absicht getan.
Die andere heuchelte: „Das schöne Bild!“
Wir wussten alle drei, dass es schlecht gewesen war. Ich atmete tief durch und versuchte, die Ruhe zu bewahren. Wenigstens würde ich jetzt für meine schlechte Zeichnung nicht auch noch eine schlechte Note kassieren. Im Grunde hatten sie mir also sogar einen Gefallen getan.
Ich stand wortlos auf, ging zum Waschbecken und holte mir einen Lappen, um das Wasser aufzuwischen. Als ich mich bückte, ging eines der Mädchen ebenfalls neben mir zu Boden. „Ich helfe dir“, flötete sie, doch als wir auf einer Höhe waren, zischte sie: „Mörderin!“
Ich sah erschrocken auf, blickte in ihr feindselige zusammengekniffenen Augen und warf ihr den nassen Lappen ins Gesicht. Sie schrie auf und verpasste mir eine Ohrfeige. Ich wehrte mich, schlug zurück, riss an ihren Haaren. Mrs. Murphy rief, dass wir aufhören sollten, doch wir reagierten beide nicht. „Du hast Alannah umgebracht!“, jaulte das Mädchen, doch plötzlich wurde sie zur Seite gestoßen und Winter stürzte sich auf mich. Ich knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden und für einen kurzen Moment wurde alles um mich herum schwarz, bevor ich spürte, wie mir die Luft abgeschnürt wurde. Ich riss panisch die Augen auf und sah in das hassverzerrte Gesicht meiner Schwester. Ihre Augen waren dunkle Schlitze und ihr Mund wütend zusammengepresst. Ihre Hände lagen um meinen Hals und drückten zu.
Nein!
Was tat sie nur?
Wollte sie mich wirklich umbringen?
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