Ohne mir die Hand zu reichen, ging sie davon und ließ mich auf dem Flur des Polizeireviers zurück. Selbst wenn Detektive Windows herausfinden würde, dass ich eine Schattenwandlerin war, würde sie es nicht glauben. Für Menschen wie sie existierten übernatürliche Wesen wie ich nicht.
Das Verhör hatte über zwei Stunden gedauert und trotzdem saßen mein Vater und Lucas noch genau auf derselben Bank, auf der ich sie zurückgelassen hatte. Erleichtert kamen sie mir entgegen. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Lucas besorgt und legte mir seine Hand auf die Schulter. Ich nickte, sah aber unmittelbar zu Dad. „Wo ist Winter?“ Sie war ebenfalls zur Befragung hier gewesen, so wie wir alle.
Er setzte eine bedauernde Miene auf. „Sie war früher fertig und wollte nicht länger warten. Mum ist mit ihr und Mona schon einmal vorgefahren. Wenn wir Glück haben, ist das Essen bereits fertig, wenn wir nach Hause kommen.“ Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und legte seine Hand auf meine andere Schulter. „Lass uns nach Hause gehen!“
Wenn ich an meine Schwester dachte, ergriff mich ein beklemmendes Gefühl. Obwohl die Polizei mich ihretwegen des mehrfachen Mordes verdächtigte, konnte ich ihr nicht böse sein. Winter hatte jeden Grund, mich zu hassen. Ich hatte sie im Stich gelassen, ihren Exfreund geküsst und zudem war ich schuld daran, dass Liam Dearing in ihr Leben getreten war. Liam, dessen kleine Schwester ich auf dem Gewissen hatte und der mich deshalb gejagt hatte. Liam, den Winter hatte töten müssen, um mich zu retten. Sie ging mir aus dem Weg, sah mich nicht einmal mehr an. Ich hätte mir gewünscht, dass sie mich anschreien und mir eine Ohrfeige nach der anderen verpassen würde, aber stattdessen ignorierte sie mich. Es war fast, als würde ich für sie gar nicht mehr existieren. Das tat mehr weh, als alles andere es je tun könnte.
Wir quetschten uns zu dritt auf die Vorderbank des Leihwagens von Lucas’ Eltern. Ihr Pick-up befand sich noch in der Reparatur, nachdem ich ihn bei der Suche nach Winter gegen einen Laternenpfahl gesetzt hatte. Lucas hatte meinetwegen einen zweiten Nebenjob angenommen, um seinen Eltern das Geld für die Reparatur irgendwann zurückzahlen zu können. Ich saß in der Mitte, zwischen den beiden wichtigsten Männern in meinem Leben: meinem Dad und Lucas. Beide liebten mich bedingungslos und waren bereit, mir alles zu verzeihen. Ich war nicht nur eine miserable Tochter, sondern auch eine noch schlechtere Freundin gewesen. Ich verdiente weder die Liebe des einen noch die des anderen.
Als Slade’s Castle in Sichtweite kam, sah ich bereits dicken Rauch aus unserem Schornstein aufsteigen, während der Regen heftig gegen die Fensterscheiben des Autos prasselte. Der kurze irische Sommer war nun endgültig vorbei und ich hatte ihn komplett verpasst. Keine Tage am Strand, keine Grillfeste und keinen Jahrmarkt. Stattdessen hatte ich mich völlig zugedröhnt von einer Party zur anderen geschleppt, bevor schließlich mein Schattenwandlergen ausgebrochen war und ich Probleme hatte, überhaupt ein Mensch zu bleiben und mich nicht alle paar Minuten in Schatten aufzulösen.
Der Wagen hielt in der Einfahrt zwischen unserem Haus und dem der Familie Riley. Bevor Dad die Tür öffnete, wandte er sich an Lucas. „Danke, dass du mitgekommen bist. Möchtest du etwas essen?“
Er schüttelte den Kopf. „Danke für das Angebot, Mr. Rice, aber ich muss gleich zur Arbeit.“
Dad grinste von Lucas zu mir. „Nimm dir mal ein Beispiel an ihm!“
Ich rollte mit den Augen. Zwar hatte ich mir vorgenommen, mich zu bessern, aber mir war auch klar, dass das nicht von einem auf den anderen Tag gehen würde. Zudem hätte mich der Inhaber des Kinos, in dem Lucas arbeitete, vermutlich ohnehin nicht eingestellt. Ich glaubte nicht, dass er bereits vergessen hatte, wie ich vor einem Jahr in seinem Kino geraucht und dabei ein Feuer entzündet hatte.
„Ich komme gleich nach“, sagte ich zu Dad, der eilig aus dem Auto sprang und durch den Regen zur Haustür rannte. Als er weg war, wurde es still im Wagen. Wir sahen beide hinaus in den grauen Himmel. Seitdem Liam tot war und wir Winter wieder nach Hause gebracht hatten, waren wir nicht mehr miteinander alleine gewesen. Ich wusste nicht, was er über mein Verhalten in Liams Anwesen dachte. Ich war bereit gewesen, Liam zu ermorden. Lieber er als ich. Fürchtete Lucas meine skrupellose Seite?
Plötzlich legte er seine Hand sanft und warm über meine. Er sah mir ins Gesicht, mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Wir bekommen das alles schon wieder hin.“ Er zog aus seiner Jackentasche eine kleine Schachtel und reichte sie mir.
Überrascht nahm ich sie entgegen. „Für mich?“
„Nein, für deine Mum“, sagte er ernst, begann dann aber zu lachen. „Natürlich für dich!“
Die Schachtel war aus rotem Samt und fühlte sich weich unter meiner Haut an, als ich den Deckel aufschnappen ließ. Auf einem kleinen schwarzen Kissen lag eine filigrane Kette aus glänzendem Silber mit einem kleinen Vogel als Anhänger. An der Stelle, wo der Vogel sein Auge gehabt hätte, funkelte ein kleiner weißer Stein.
„Zum Neuanfang“, sagte Lucas und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme, ohne ihn ansehen zu müssen. Er hatte meinetwegen Streit mit seinen Eltern und musste einen Job annehmen, um die Kosten bezahlen zu können, die ich verursacht hatte. Er war definitiv zu gut für mich und ich wusste schon jetzt, dass ich ihn auf die eine oder andere Art enttäuschen würde.
Er sah meine Besorgnis und konnte meine Gedanken lesen, ohne dass ich auch nur ein Wort sagen musste.
„Es ist ein Geschenk und ich erwarte dafür keine Gegenleistung von dir. Ich glaube an dich! Du wirst es nicht leicht haben, aber ich weiß, du wirst es schaffen.“
Ich drängte meine Zweifel zurück und ließ mich von meiner Zuneigung leiten. „Solange du mir hilfst, kann ich alles schaffen.“
„Ich werde immer für dich da sein, aber bitte lauf nicht mehr weg. Lass mich nicht noch einmal einfach zurück, das könnte ich nicht ertragen.“
Ich wandte mich ihm zu, fühlte mich zu ihm und seiner bedingungslosen Liebe hingezogen. „Es tut mir so leid! Ich verspreche dir, dass ich es irgendwie wiedergutmachen werde.“
Lucas’ Hand legte sich zärtlich auf meine Wange. Sein Daumen strich unter meinem Auge entlang. Ich hatte geweint, ohne es überhaupt zu merken. „Bleib einfach bei mir, das reicht mir völlig“, flüsterte er und nährte sich mir langsam. Er war mir so vertraut und es fühlte sich gut an, in seiner Nähe zu sein. Sicher und geborgen. Mein Bauch kribbelte, wenn ich in seine blauen Augen sah und mein Herzschlag beschleunigte sich bei dem Gedanken daran, ihn noch einmal zu küssen. Früher hatte es mir nichts bedeutet. Früher hatte ich Lucas immer für selbstverständlich genommen. Er war für mich ein Testobjekt gewesen, an dem ich meine weiblichen Reize hatte ausprobieren können. Ich hatte es geliebt, zu wissen, dass er von mir mehr als Freundschaft wollte, aber ihm genau das nicht zu geben. Immer wieder hatte ich ihm bewusst Hoffnungen gemacht, ohne mich je um seine Gefühle zu scheren. Es war mir egal gewesen, ob er litt. Ich hatte es nicht einmal ernst genommen, weil ich selbst so wenig fühlte, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es jemandem anders erging.
Ich wollte ihn küssen, mit ihm verschmelzen, mich nie mehr von ihm lösen, aber ich konnte dem Drang nicht nachgeben. Winters enttäuschtes und maßlos verletztes Gesicht tauchte immer unmittelbar vor meinen Augen auf, wenn ich Lucas zu nahe kam. Ich hatte ihr so wehgetan, indem ich den Kuss mit ihrem Exfreund zugelassen hatte. Winter hätte ihn so viel mehr verdient als ich. Er würde viel besser zu ihr als zu mir passen, da machte ich mir nichts vor. Vielleicht würde Lucas das irgendwann auch einsehen. Winter würde ihn ohne Zweifel zurücknehmen. Sie hatte ihn schon immer geliebt und würde es vermutlich auch immer tun.
Читать дальше