«Und? Kannst du das?», fragte Meli leise.
«Ich überlege noch. Könntest du’s?»
«Ich war glücklicherweise noch nie in einer solchen Situation. Aber ich denke nicht, nein.»
Roro schwieg und zerfetzte seine Serviette in kleine Stücke. Man sah ihm an, wie sehr er litt. Weil Meli sich nicht anders zu helfen wusste, wählte sie einen plumpen Ausweg aus der Situation und rettete sich mit einem raschen Themenwechsel.
«Hast du eigentlich mal wieder was von unseren Schulfreunden gehört?»
Roro plauderte ohne Punkt und Komma. Meli hörte ihm gerne zu und hätte fast vergessen, weshalb sie eigentlich ins Einkaufszentrum gekommen war.
«Shit, Roro. Bitte entschuldige, dass ich dich so abrupt stehen lassen muss. Ich habe eine Verabredung und komme zu spät.»
«Kein Problem. Danke, dass du mir zugehört hast», sagte ihr alter Schulfreund und drückte sie an sich.
Melis Herz schlug in unerwünschter Weise sofort ein Stückchen schneller und sie bekam zittrige Knie. Sie genoss diese Umarmung mit Roro viel zu sehr – genau wie früher. Deshalb brachte Meli schnellstmöglich wieder etwas Distanz zwischen sich und ihren früheren Schwarm und machte sich im Laufschritt zum Treffpunkt mit Julia auf.
Silvans Mutter wartete bereits an einem Rattan-Tisch unter dem grossen, gelben Sonnenschirm.
«Es tut mir so leid, Julia. Ich habe zufällig jemanden getroffen und komplett die Zeit vergessen», sagte Meli im Näherkommen.
Julia sah wie immer hervorragend aus: Sie trug ihre langen, glatten blonden Haare offen über die Schultern und hatte dezentes Make-Up aufgetragen, das sie ein paar Jahre jünger aussehen und ihre Augen strahlen liess. Meli hatte selten eine Frau in den Fünfzigern gesehen, die so klassisch-elegant angezogen war, aber nie aufgesetzt wirkte. Heute trug Silvans Mutter einen dunkelblauen Hosenanzug, eine lachsfarbene Bluse und gleichfarbige Stilettos.
Julia erhob sich lächelnd und umarmte ihre ehemalige Fast-Schwiegertochter herzlich. Ihre Augen glitzerten verdächtig.
«Ich habe drei Jahre auf dich gewartet, Liebes. Da spielen ein paar Minuten keine Rolle. Und ausserdem weiss ich jetzt, dass du dich nicht verändert hast; was ich sehr tröstlich finde. Setz dich doch.»
Ausser Atem und etwas peinlich berührt setzte sich Meli auf die braunen Terrassen-Möbel. Sie war sehr angespannt, wusste nicht wohin mit ihren Händen und vermied den direkten Blickkontakt. Sie räusperte sich zweimal, bevor sie ihren ganzen Mut zusammennahm. «Danke, dass du gekommen bist», begann sie leise. «Ich habe dir so viel zu sagen. Ich weiss nicht, wo ich anfangen soll.»
«Vielleicht solltest du zuerst mal tief durchatmen, Meli. Du musst keine Angst haben. Ich bin dir nicht böse oder so.»
Melanie starrte sie mit grossen Augen an.
«Warum nicht?»
Silvans Mutter lächelte sanft.
«Warum sollte ich? Ich weiss, dass du meinen Sohn von ganzem Herzen geliebt hast. Ich kann mir vorstellen, wie sehr dich sein Tod getroffen hat. Ich habe mich nach dem Unfall in die ehrenamtliche Arbeit gestürzt, du hast dich zurückgezogen. Jeder geht mit Trauer anders um.»
«Aber … ich bin Schuld. Ich habe … ich habe Silvan umgebracht. Wäre ich nicht gewesen, wäre er noch am Leben», stammelte sie und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. «Ich habe deinen Sohn auf dem Gewissen.»
«Um Himmels Willen, Liebes, wie kommst du auf eine solch schwachsinnige Idee?»
«Wir hatten gestritten», flüsterte Meli mit brüchiger Stimme. «An dem Tag, an dem Silvan den Unfall hatte. Ich bin Schuld. Es tut mir so unendlich leid!»
«Hör auf, Melanie!», sagte Julia bestimmt, beugte sich zu Meli vor und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Mit den Daumen trocknete sie Melis Tränen bevor sie weitersprach: «Dich trifft keine Schuld. Es war ein Unfall. Silvan war zu schnell und hat den Hirsch nicht gesehen. Das ist alles.»
«Die Polizisten haben gesagt, dass er unkonzentriert war. Das war wegen unseres Streits. Da bin ich mir sicher. Vielleicht wäre der Unfall sonst nie geschehen. Vielleicht hätte er ausweichen können. Vielleicht wären wir jetzt verheiratet und du hättest zwei süsse Enkelkinder. Wenn ich nur nicht so stur gewesen wäre … ». Meli weinte so sehr, dass ihr ganzer Körper zitterte und ihr das Atmen schwerfiel. «Ich hoffe seit Jahren, dass du mir irgendwann verzeihen kannst. Auch wenn ich es natürlich nicht verdient habe!»
«Psst, Süsse. Es gibt nichts, wofür du mich um Vergebung bitten musst. Hör mir bitte genau zu: Silvan hatte einen Unfall! Du bist nicht schuld. Ich bin nicht schuld. Er ist nicht schuld. Was damals geschehen ist, stimmt mich heute noch traurig. Ich denke täglich an ihn. Und das wird auch immer so sein. Aber ich habe dir nie – hörst du, Melanie! – nie die Schuld an dem Unfall gegeben. Deshalb musst du mich auch nicht um Verzeihung bitten. Aber vielleicht wäre es an der Zeit, dass du dir selbst vergibst und weiterlebst.»
Sowas hatte ihre Mutter beim Osterbrunch auch gesagt, erinnerte sich Meli, deren Tränen langsam versiegten.
«Danke», hauchte sie.
«Immer gerne, Melanie! Willst du mir erzählen, was an jenem Tag vorgefallen ist?»
Sie schnäuzte sich ein letztes Mal, holte tief Luft und begann zu erzählen. Sie merkte, dass sich tief in ihrem Innern ein Knoten löste. Sie fühlte sich zum ersten Mal seit langem wieder lebendig, auch wenn die Traurigkeit noch nicht verschwunden war. Julia lauschte aufmerksam ihrer Geschichte, fragte zwischendurch nach und berichtete selbst über das Erlebte. Für fremde Betrachter wirkten sie wohl wie zwei Freundinnen; der traurige Hintergrund des Treffens war höchstens noch in Melis verschmierter Mascara zu erahnen.
Die ersten Läden im Einkaufszentrum schlossen bereits, als Meli aufstand und Silvans Mutter umarmte. «Danke für den Nachmittag. Wenn ich gewusst hätte, dass du nicht böse auf mich bist, hätte ich mich schon lange bei dir gemeldet. Bitte entschuldige, Julia.»
«Ich dachte, dieses ewige Um-Verzeihung-Bitten hätten wir endlich hinter uns. Ich war dir nie böse und bin es auch jetzt nicht. Es hat mich sehr gefreut, dich wiederzusehen. Du hast ja meine Nummer. Wenn du Lust und Zeit hast, einen Kaffee trinken zu gehen, melde dich.»
Lächelnd kam Meli zuhause an, wo sie sich zuerst um Milos Abendessen und anschliessen um ihr eigenes kümmerte.
«Julia ist mir nicht böse», murmelte sie beim Tomatenscheiden immer wieder vor sich hin. Sie war sich die ganzen Jahre so sicher gewesen, dass sie Silvans Familie ins Unglück gestürzt hatte. Sie hätte schwören können, dass Julia ihr niemals verzeihen würde; dabei hatte nur sie sich selbst nicht verzeihen können. Das wollte sie nun in den nächsten Wochen in Angriff nehmen, auch wenn das Aufarbeiten wohl nicht so einfach werden würde. Die Trauer über Silvans Tod hatte sie drei Jahre lang unterdrückt. Um sich selbst zu vergeben, musste sie diese dunklen Gefühle nach und nach zulassen.
Ein lauter Piep-Ton ihres Handys riss Meli aus den Gedanken.
Hey Süsse. Sorry, dass ich dich so überfalle. Habe mich soeben ganz doll mit Nadine gestritten. Brauche ein freundliches Gesicht und eine Schlafmöglichkeit. Kann ich vorbeikommen? Bye, Roro
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