Liebe Julia. Ich habe von meiner Mutter deine Telefonnummer erhalten. Ich denke, der Moment ist gekommen, dass wir uns unterhalten. Ich habe am Samstag in einer Woche nachmittags Zeit. Wollen wir uns auf einen Kaffee in der Innenstadt treffen? Liebe Grüsse, Melanie.
Sie sass immer noch in ihrem blauen Sessel mit den unzähligen Katzen-Kratzspuren, als Anna in der Türe auftauchte und sich genüsslich streckte.
«Oh, Mann! Das hab ich schon so lange nicht mehr gemacht. Das hat echt gut getan!»
«Und es wird dir in Kürze noch besser gehen. Pizza und Tiramisu sind auf dem Weg», verriet Melanie.
«Wann hab ich dir das letzte Mal gesagt, dass du die beste Schwester auf der ganzen Welt bist?»
«Ist schon ein Weilchen her», lachte Meli. «Aber ich weiss es auch so!»
«Warum machen wir das eigentlich nicht öfter? So einen Schwesternabend, meine ich.»
«Weil wir uns die nötige Zeit nicht nehmen», sagte die Jüngere von beiden und in ihrer Stimme schwang Bedauern mit. «Sollten wir aber! Du kannst übrigens gerne auch mal Lea vorbeibringen, wenn du und dein Mann ein bisschen Zeit zu zweit verbringen wollt. Einen Tag halte ich das mit meiner süssen Nichte problemlos aus.»
«Was für ein verlockendes Angebot, Kleine! Da kommen wir sicher gerne mal darauf zurück!»
Nach einem ausgiebigen Nachtessen mit viel Klatsch und Tratsch unter Schwestern verabschiedete sich Anna spätabends. Dass der morgige Tag aufgrund der fehlenden Stunden Schönheitsschlaf wohl etwas anstrengender ausfallen würde, störte Melanie nicht. Der Plausch mit Anna hatte ihr gut getan. So gut, dass sie fast ihre Nachricht an Julia vergessen hätte. Deshalb fiel ihr beinahe das Handy aus der Hand, als sie das kleine Symbol auf dem Display sah, das den Eingang einer Mitteilung anzeigte. Mit zitternden Händen drückte sie auf den Text:
Guten Abend Melanie. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, von dir zu lesen. Natürlich habe ich am Samstag in einer Woche Zeit für ein Gespräch. Ich kann es kaum erwarten, dich endlich wieder zu sehen. Ich drücke dich. Julia
Melanie schlief in dieser Nacht so tief, wie schon lange nicht mehr. Sie bemerkte nicht einmal, als Milo sich zu ihr ins Bett legte und sich ganz eng an sie kuschelte.
In ihrem Traum sass sie auf einer wunderschönen Frühlingswiese und liess ihre Finger durchs hohe Gras gleiten. Sie pflückte eine rote Tulpe und atmete tief ihren zarten Duft ein. Plötzlich kam der weisse Hase aus Alice im Wunderland vorbei und forderte Melanie mit drängender Stimme auf, sich zu beeilen.
«Wir haben doch keine Zeit, mein Kind», wiederholte er immer und immer wieder.
Meli liess sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Sie blieb weiterhin in der Wiese sitzen und spürte einen tiefen Frieden in sich aufsteigen.
«Verzeihe selbst, wenn du Verzeihung brauchst.»
(Horaz)
21. Mai 2011:
Sie hatte sich wirklich vorgenommen, nicht nervös zu werden; schliesslich hatte sie Julia um dieses Treffen gebeten. Und dennoch war Meli für einmal wach, bevor Milo seine Futter-Revolution veranstaltete, indem er ihr mit allen Vieren auf den Bauch stieg, sie anstarrte und leise Knurrgeräusche von sich gab. Sie duschte lange, schmuste ausgiebig mit ihrer Samtpfote und bereitete sich ein üppiges Frühstück vor, obwohl sie keinen Bissen runterbrachte. Danach riss sie zweimal alle Kleider aus dem Schrank, ohne das passende Outfit für das Treffen zu finden, schminkte sich und frisierte ihre Lockenpracht. Da sie Bluejeans und Pullover plötzlich zu schlicht für das Wiedersehen mit Silvans Mutter fand, zog sie sich noch dreimal um. Aus Angst, ihre Meinung wieder und wieder zu ändern, verliess sie noch vor dem Mittag ihre Wohnung in einer schlichten schwarzen Hose, einer roten Bluse und ihren passenden Lieblingspumps aus Wildleder. Weshalb ihre Wahl am Ende auf dieses Outfit gefallen war, wusste Meli nicht. Aber sie fühlte sich wohl – und das allein zählte.
Melanie war so in Gedanken versunken, dass sie den gut aussehenden Typen gar nicht bemerkte, der am Eingang zum Einkaufszentrum stand. Als er sie ansprach, schrie sie deshalb vor Schreck auch leise auf und sprang zur Seite.
«Sachte, Meli, ich wollte dich nicht erschrecken», lachte er. «Wie geht es dir?»
Sie betrachtete den blonden Mann mit den stechend blauen Augen und erkannte sofort ihren Sandkastenfreund. «Roro!», rief sie aus und warf sich ihm in die Arme. Sie kannte diesen schönen Mann, der eigentlich Robert hiess, aber von niemandem – auch nicht von seinen Eltern – jemals so genannt wurde, schon seit Ewigkeiten: Sie waren im gleichen Viertel aufgewachsen und drei Jahre in die gleiche Klasse gegangen. Von ihm hatte sie in frühen Jugendjahren alles über den männlichen Körper erfahren und im Gegenzug ihm alles über ihren erzählt. Sie war damals sowas von verknallt in ihn gewesen, dachte Meli und schwelgte in Erinnerungen! Plötzlich merkte sie, dass sie Roro schon viel zu lange umarmte und trat verlegen einen Schritt zurück.
«‘Tschuldige!», sagte sie und räusperte sich. «Wie geht es dir? Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen.»
«Stimmt. Abgesehen vom kurzen Schwatz beim Brunch mit deinen Freundinnen. Kannst du dich erinnern? Das war irgendwann im letzten Herbst.»
Dunkel erinnerte sich Meli an ein Sonntagsfrühstück mit Isa und Tally, die beide hin und weg gewesen waren von Roro. Vor allem Isa hatte noch tagelang von ihm geschwärmt.
«Hast du Zeit für einen Kaffee, Meli? Es würde mich freuen, ein bisschen mit dir zu plaudern.»
Dieses Angebot konnte und wollte sie nicht ausschlagen. Sie versuchte sich einzureden, dass Roro nur ein Mittel zum Zeitvertreib war, bis sie mit Julia verabredet war, wusste aber selbst, dass dies nicht stimmte.
«Erzähl, wie ist es dir in der letzten Zeit ergangen», eröffnete er das Gespräch, nachdem sie sich beide einen grossen Latte Macchiato geholt hatten.
«Ich kann mich nicht beklagen, danke. Ich habe einen tollen Job bei einem kleinen Verlagshaus, der mir gut gefällt. Und wie sieht’s bei dir aus?»
«Ich bin, seit ich aus der Schule gekommen bin, Banker. Ich mag diese Arbeit, auch wenn viele denken, der Job sei spiessig.».
Melanie bemerkte die beiden feinen Fältchen zwischen den Augen, wenn er lachte, die er schon als Kind gehabt hatte.
«Und wie geht’s deiner wunderschönen Freundin, mit der du beim Brunchen warst?», fragte Meli direkt. Als sie sah, wie sich Roros Blick plötzlich verfinsterte, bereute sie ihre Neugier sofort. «Oh, entschuldige bitte. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Du musst nicht antworten, wenn du nicht willst!»
«Wir kennen uns so lange, Meli, du musst dich nicht entschuldigen. Du darfst mich alles fragen. Das war schon immer so. Es ist nur im Moment etwas kompliziert mit Nadine.»
Melanie schwieg, weil sie ihren alten Schulfreund nicht drängen wollte. Sie sah seinen leeren, herzzerreissenden Blick und schluckte schwer.
«Ich habe vor einem Monat erfahren, dass sie mich betrügt. Ich hab sie in flagranti erwischt», fuhr er nach einer Weile fort. «Sie hat sich bei uns zuhause mit einem anderen getroffen, während ich bei der Arbeit war. Das Ganze ging über längere Zeit. Sie schwört, dass nun alles vorbei sei und sowas nie, nie wieder vorkommen wird. Sie bettelt mich an, ihr zu verzeihen.»
Читать дальше