Meli liebte es, der Kleinen zuzuhören und sie im Glauben zu lassen, dass sie nicht merkte, dass die Geschichten eigentlich von Disney stammten. Ausserdem genoss sie es, mit Lea die kleinen Kuchen in Hasenform, die es zum Nachtisch gab, mit Smarties und Zuckerguss zu dekorieren. Auch Anna und Tom waren mit viel Eifer dabei und neckten sich mit der Schokoglasur, indem sie sich die Creme auf die Nasen schmierten.
Nur Franziska verhielt sich plötzlich seltsam. Sie mied Melis Blick und war wortkarg. Als Melanie sie darauf ansprach, reagierte sie wie ein verstörtes Reh und stotterte eine unglaubwürdige Antwort vor sich hin.
Beim Abwasch packte Meli ihre Chance.
«Mom, was ist los? Und sag mir nicht, alles sei okay.»
Ihre Mutter betrachtete ihre Finger, sagte aber nichts.
«Mom! Bist du krank? Sprich mit mir!», bettelte Meli.
«Mir geht es gut, Schätzchen. Ich habe gestern im Theater zufällig eine Person getroffen und weiss nicht, ob ich mit dir darüber reden soll oder nicht.»
Endlich sah Franziska ihre Tochter an, die sich plötzlich unbehaglich fühlte.
«Mäuschen, ich habe Julia gesehen. Silvans Mutter.»
Melanie sah, dass ihre Mutter mit sich kämpfte.
«Sie möchte dich sprechen. Nach all den Jahren möchte sie endlich mit dir über den Tod ihres Sohnes reden.»
Meli musste sich am blitzeblanken Spülbeckenrand festhalten, weil ihre Knie nachzugeben drohten. Sie konnte kaum atmen und sah flackernde Sternchen vor den Augen. Sie hatte Julia eigentlich immer gemocht, hatte sogar mit ihr das Hochzeitskleid ausgesucht. Silvans Mutter hatte sie von Beginn weg in der Familie willkommen geheissen und eingebunden. Sie waren Freundinnen geworden, auch wenn Meli ihr natürlich nicht alles über die Beziehung zu ihrem Sohn anvertraut hatte. Durch regelmässige Shoppingtouren, ein paar Kaffeekränzchen zu zweit und viele Familienfeste waren sie als neue Familie zusammengewachsen. Nach Silvans Tod hatte Meli den Kontakt abgebrochen. Sie war nicht mal zur Beerdigung gefahren, hatte auf keinen Anruf und keinen Brief geantwortet. Sie konnte der Mutter ihres Fast-Ehemann aufgrund ihrer Schuldgefühle nicht in die Augen sehen.
«Hör zu, Melanie. Julia hat mir ihre Nummer mitgegeben. Sie würde sich über deinen Anruf freuen, möchte dich aber nicht drängen. Steck die Nummer ein und lass dir das Ganze durch den Kopf gehen. Vielleicht kannst du so Silvans Tod endlich verarbeiten». Franziska strich Meli sanft über den Rücken und liess sie dann alleine in der Küche zurück.
Melanie war durch diese Neuigkeit so von der Rolle, dass sie sich frühzeitig von ihrer Familie verabschiedete und in ihre Wohnung floh. Anders als ein paar Stunden zuvor kam ihr der Rückweg unglaublich lange vor. Die Unruhe, die sie in ihrem Inneren spürte, schien immer grösser zu werden und unzählige Fragen wirbelten wild in ihrem Kopf durcheinander: Wie sollte sie sich verhalten? Konnte sie Julias Bitte einfach ignorieren? Und was würde passieren, falls sie sich zu einem Treffen durchringen konnte? Weshalb wollte Julia überhaupt genau jetzt mit ihr sprechen? Machte sie Meli Vorwürfe? Wusste sie von dem Streit, der zu Silvans Tod geführt hatte?
Endlich in der Wohnung angekommen, tigerte Melanie stundenlang auf und ab, konnte keine Minute stillsitzen. Normalerweise war die Dreizimmerwohnung für sie alleine mehr als gross genug; heute fühlte sie sich aber eingeengt. Sie spürte ein tonnenschweres Gewicht auf ihrer Brust, als ob ein Lastwagen auf ihren Lungen geparkt hätte. Kalter Schweiss rann ihr über die Stirn und ihre Hände zitterten.
Sie versuchte sich durch Fernsehen und Lesen abzulenken, was aber nicht funktionierte. Die Filme, die jedes Jahr zu Ostern ausgestrahlt wurden, hatte sie alle schon gesehen. Und obwohl der vor kurzem begonnene Roman Das Jahr des Hasen sie bisher gefesselt und zum Lachen gebracht hatte, kam sie dabei nicht auf andere Gedanken.
Sie hatte immer gewusst, dass der Tag irgendwann kommen würde, an dem sie sich mit Silvans Tod intensiv auseinander setzen musste. Nicht still in ihrem Kämmerlein, sondern mit einem wahren Seelenstriptease. Meli wusste, dass sie eigentlich keine Wahl hatte: Früher oder später musste sie Julia anrufen. Das war sie Silvan und seiner Familie schuldig.
Dank zwei vollen Gläsern von Annas selbstgebrautem Eierlikör fiel Meli irgendwann auf dem Sofa in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte von ihrer Suche nach dem Osternest: Sie musste über mehrere Hindernisse klettern, Gegenstände aufheben und durch tiefen Schlamm waten, bis sie ihr Geschenk entdeckte. Im kleinen Korb mit dem grünen Kunstgras steckten aber nur ein kleines Stoffküken mit Leas Gesicht und eine Visitenkarte von Julia.
«Die Zeit verweilt lange genug für denjenigen, der sie nutzen will.»
(Leonardo da Vinci)
10. Mai 2011:
Meli war noch nie pünktlich gewesen. Auch wenn sie ihren Tag genau durchorganisierte, fehlten ihr am Ende immer ein paar Minuten. Sie wusste, dass diese Eigenschaft für ihre Mitmenschen Nerv tötend war, fand für sich aber keine passende Lösung, sie zu vermeiden. Ihre Familie und Freunde wussten von ihrer Schwäche und rechneten immer ein paar Pufferminuten hinzu, wenn sie mit Meli verabredet waren.
Was im Privatleben der 28-Jährigen normal war, kam im Arbeitsalltag nie vor. Ihr Chef war sehr strikt, was Verspätungen betraf. Jeder Mitarbeitende, der nach der vorgegebenen Zeit im Verlag eintraf, musste sofort im Chefbüro vorbei, um sich zu erklären. Seit Meli vor sechs Jahren dort unterschrieben hatte, war sie noch nie unbegründet zu spät bei der Arbeit eingetroffen.
An diesem Morgen ging aber alles schief, was schief gehen konnte. Da sich ihr Smartphone, das allmorgendlich als Wecker fungierte, in der Nacht wie durch Geisterhand abgeschaltet hatte (und nein, der Akku war nicht leer gewesen!), erwachte sie bereits mit einer halben Stunde Verspätung. Im Eiltempo sprang sie unter die Dusche, trug das Minimum an Schminke auf, schnappte sich ihre Handtasche und hetzte zur Zugstation. Dort merkte sie, dass sie sowohl ihre Geldbörse als auch ihr Handy zuhause auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte, weshalb sie nochmals zurück musste. Inzwischen hatte Milo sein ganzes Frühstück direkt vor der Eingangstüre erbrochen, sodass Meli beim Hineinstürmen ihre Socken versaute und frische suchen musste. Bis sie im Trockner zwei passende Exemplare gefunden und ihre vergessenen Sachen geschnappt hatte, war der Zug schon längst über alle Berge.
Als Meli mit hochrotem Kopf und üblen Schweissflecken auf der hellblauen Bluse bei der Arbeit eintraf, begab sie sich gleich in Lucianos Büro. Da ihr Chef aber nicht da war, schlüpfte sie erleichtert möglichst unauffällig hinter ihren Bildschirm und begrüsste möglichst leise Tally.
«Ich bin in sechs Jahren noch nie zu spät gekommen. Noch nie. Aber heute hatte sich das Universum gegen mich verschworen. Weisst du, wo der Chef ist? Ich wollte mich bei ihm für meine Verspätung entschuldigen.»
«Der kümmert sich heute um seine drei Kinder, glaub ich. Erinnerst du dich an seine E-Mail vor ein paar Wochen, dass er häufiger Zeit mit seinem Nachwuchs verbringen wolle, damit er nicht ihre ganze Kindheit verpasst? Ich glaube, heute ist einer dieser Dienstage, die er zu Hause bleibt. Was war los bei dir?»
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