«Du bist zwar etwas schrullig, Meli, aber ich hab dich trotzdem doll lieb!», flüsterte Tally ihr ins Ohr und umarmte sie fest.
Erst gegen zwei Uhr morgens legte sich Melanie ins Bett. Der Abend hatte ihr gut getan. Nachdem das heikle Thema Männer abgeschlossen gewesen war, hatten sich die drei auf den neusten Stand gebracht. Auch wenn sie sich noch nicht allzu lang kannten, hatten sie viele Running Gags, die sie lauthals vorbringen konnten. Meli staunte immer wieder, wie sich drei so unterschiedliche Frauen so gut verstehen konnten. Sie selbst war diejenige, die Sprüche riss und die anderen zum Lachen brachte, am meisten Ideen für Ausflüge und Ferien hatte und die jeweils am meisten Aufmerksamkeit von Fremden auf sich zog. Isa war die Draufgängerin. Sie genoss das Leben in vollen Zügen, nahm regelmässig unbekannte Männer mit nach Hause und war immer mit Vollgas unterwegs. Tally hingegen war die Besonnene, Bodenständige des Trios, die am besten ihre Gefühle benennen und zeigen konnte. Ausserdem war sie zurzeit die Einzige, die einen Mann an ihrer Seite hatte. Bei ihnen schien das Sprichwort, dass sich Gegensätze anziehen, zu stimmen. Die Drei ergänzten sich perfekt und die Abende waren jedes Mal unvergesslich. Meli hatte auch heute mehrfach Tränen in den Augen gehabt – vor Lachen, versteht sich. Die dunkle Zeit war vorbei, jedenfalls für ein paar Wochen. Und dafür war sie dankbar.
Sobald es sich Milo im Bett an Melis Seite bequem gemacht hatte, schlief sie ein. Sie träumte von einem dunklen, verlassenen Wald. Der Ort jagte ihr einen Schauer über den Rücken und machte ihr Angst. Plötzlich erblickte sie auf einem dicken Ast vor ihr ihren Stubentiger, der zur Begrüssung laut schnurrte. Je näher sie Milo kam, desto heller wurde das Licht im Wald. Bald waren die Tannen so von Sonnenstrahlen beleuchtet, dass sie zwischen den dichten Zweigen eine kleine Holzhütte entdeckte, die sie ans Märchen von Hänsel und Gretel erinnerte. Aus dem Knusperhäuschenfenster schauten aber nicht die beiden Grimm-Figuren, sondern Isabelle und Chantal, die ihr freudig zuwinkten.
«Es ist das Osterfest alljährlichfür den Hasen recht beschwerlich.»
(Wilhelm Busch)
24. April 2011:
Melanie war zum Osterfest bei ihrer Schwester eingeladen. Sie hatte zu ihrer Familie einen engen, aber unregelmässigen Kontakt, was aber nicht auf Streitereien zurückzuführen war. Die Lehmanns hatten schlicht nicht das Bedürfnis, sich so häufig zu sehen oder zu hören wie andere Familien. Dennoch freute sie sich auf den heutigen Brunch bei Anna; vor allem auf ihre kleine Nichte Lea. Die Vierjährige war ein echter Sonnenschein, wenn auch ziemlich vorlaut und stur. Meli war nach einem Tag mit der Kleinen meist müder als nach einer ganzen Woche im Büro. Sie bewunderte ihre ältere Schwester, die Job und Kind so problemlos unter einen Hut brachte und dabei auch noch eine perfekte Ehefrau für ihren Liebsten Tom war.
Melanie hatte schon immer zu Anna, die fünf Jahre älter war als sie, aufgeschaut. Ihr war immer alles leichtgefallen: die Schule, der Job, die Männer. Nun wohnte sie in einem wunderschönen Haus mit grossem Garten. Meli war nicht eifersüchtig auf ihre Schwester, sondern stolz. Sie wusste, dass Anna für all das gearbeitet und sich ins Zeug gelegt hatte. Und Tom war ein toller Kerl: witzig, höflich und ein liebevoller Vater. Sie gönnte den beiden ihr Glück von ganzem Herzen.
Auch ihre Mutter war zum Brunch eingeladen. Seit Franziska die Scheidung von Melis Vater eingereicht hatte, hatten Mutter und Tochter eine unverkrampfte Beziehung zueinander. Sie telefonierten ab und zu, um sich auf dem Laufenden zu halten und trafen sich alle paar Wochen zum Kaffeeklatsch. Man konnte Franziska nicht als typische Mutter bezeichnen – falls es sowas überhaupt gab: Sie hatte nie versucht, sich in Melis Leben einzumischen, gab selten Ratschläge – ausser wenn sie direkt danach gefragt wurde – und hatte keinen Kontrollwahn wie andere Mütter. Seit der Scheidung war sie aufgeblüht, ständig auf Reisen und viel ausgeglichener als früher.
Als Melanie klein war, wurde Ostern kaum gefeiert – was zum grossen Teil an ihrem Erzeuger lag. Die beiden Schwestern durften zwar Eier suchen, ein spezielles Frühstück oder kleine Geschenke gab es aber keine. Schokolade war sowieso schlecht für Zähne und Gewicht, weshalb ihr Vater ganz darauf verzichtete. Meli bedeutete das Osterfest aus diesem Grund nicht viel; sie verstand aber, dass Anna ihrer kleinen Tochter eine andere Erinnerung mit auf den Weg geben wollte.
Melanie packte das Ostergeschenk für Lea und das selbstgebackene Brot ein und machte sich auf den Weg. Wahrscheinlich waren die Leute entweder in der Ostermesse oder auf Eiersuche, denn die Strassen waren wie leer gefegt. Meli traf daher ein paar Minuten früher als geplant bei ihrer Schwester ein, wo sie von ihrer aufgekratzten Nichte empfangen wurde.
«Taaante, hallo! Komm schnell, du musst dein Osternest suchen. Der Osterhase war schon da. Und wenn du deins hast, musst du mir helfen. Ich suche schon seit zehn Minuten, hab’s aber noch nicht gefunden.»
Meli umarmte die Vierjährige und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. «Wo ist denn die Mama?»
«Im Garten. Sie sucht ihre Eier. Komm schon!»
Der Sprint durch den kurzen Flur sowie das grosse Wohnzimmer, dessen Wände mit Fotos und Kinderzeichnungen dekoriert waren, war für Meli alles andere als angenehm, zog Lea sie doch mit aller Kraft an der Hand gen Garten. Die österliche Dekoration im Esszimmer nahm sie deshalb auch nur am Rande wahr. Man hätte denken können, ein so kleines, erst vierjähriges Persönchen hätte nicht viel Kraft; aber weit gefehlt!
Endlich im Garten angekommen, massierte Meli ihre Schulter, die kurz vor dem Auskugeln zu sein schien.
Das Bild, das sich Meli bot, als sie die mit Bäumen umrandete Grünfläche betrat, war zum Schreien komisch: Anna und Tom waren auf allen Vieren auf der Wiese unterwegs, hoben hier einen Wäschekorb und da eine Giesskanne hoch und fluchten leise vor sich hin.
«Was ist denn hier los?», fragte Melanie lachend.
«Oh, Schwesterherz, da bist du ja. Komm, ich muss dir etwas in der Küche zeigen», sagte Anna, stemmte sich hoch und zog Meli hinter sich her.
«Wundere dich bitte nicht, Schwesterchen», begann sie ihre Erklärung. «Wir müssen in diesem Jahr alle Ostereier suchen. Du inklusive! Ich hatte vor ein paar Tagen ein Gespräch mit Lea. Ich wollte ihr erklären, dass der nette Hase nur Kindern ein Nest bringt, die Erwachsenen hingegen kein eigenes kriegen, damit sie den Kleinen beim Suchen helfen können. Sie hat sich danach echt aufgeregt. Sie wollte kein Nest von einem Hasen, der Mamas und Papas nicht mag. Sie wollte in den Eiersuch-Streik treten. Nun suchen wir also alle unsere Nester. Tom hat meins versteckt, ich alle anderen.»
«Du weisst, dass ich diese Eiersucherei schon als Kind gehasst habe … »
«Ja, ja! Aber heute gibt’s zur Aufmunterung für die Grossen selbstgemachten Eierlikör», erwiderte Anna und sah ihre Schwester flehend an.
«Eierlikör?» fragte Franziska, die sich selbst hereingelassen hatte, lachend. Sie umarmte ihre beiden Töchter, wurde dann aber augenblicklich von Lea in Beschlag genommen. Anna und Meli trotteten Oma und Enkelin in den Garten hinterher.
Nach der erfolgreichen Eiersuche wurde beim Essen ausgiebig geplaudert und gelacht. Meli scherzte ausgelassen mit ihrer kleinen Nichte, die stundenlang erfundene Geschichten als ihre eigenen erzählte. So hatte sie einen Hasen namens Klopfer und ein Reh mit Namen Bambi gesehen, die zusammen über einen zugefrorenen Teich spazierten. Oder sie konnte mit einem Schirm in der Hand aus dem Fenster ihres Kinderzimmers fliegen.
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